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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst
Autoren: Walter Kempowski
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die er noch in der Tasche stecken hatte. Das war doch etwas Verbindendes?
     
    Peter öffnete den Koffer des Barons, obenauf lag das Wanderbuch «Wege und Straßen im Baltikum», und auf der Innenseite stand: «Eberhard von Globig». Sieh an, dachte Peter, da hat sich der Baron also bedient.
    Eine Hausorgel gab es nicht in dem Dichterhaus, aber einen Flügel. Wagner setzte sich an den Flügel und versuchte, seine Es-Moll-Variationen zusammenzukriegen. Aber der Flügel war eben doch arg verstimmt. Immerhin: «Hör mal», sagte er zu Peter, «es-Moll – Ges-Dur – enharmonisch verwandelt in Fis- Dur ... Hörst du das?»
    Peter stellte sein Mikroskop auf den Flügel.
    Da lachte der Lehrer. «Mit einem Mikroskop kommst du der Sache nicht bei ... » – Von Fis-Dur wär’ es dann nach B-Dur nicht mehr weit... – Und von da aus stehe einem die ganze Welt offen! – Aber, wie hatte er das damals noch hingekriegt? Wie war das man noch gegangen? Wie war es ihm gelungen, dem Ganzen darüber hinaus auch noch Wehmut einzublasen? Und er spielte einen Tusch, so laut, daß Peter pscht! machte. Um Gottes willen, vielleicht hörte das jemand.
     
    In diesem Augenblick wurde Katharina unten auf der Straße vorübergetrieben. Mit ihrer weißen Persianermütze wäre sie gut auszumachen gewesen inmitten der Gefangenen. Vielleicht guckte sie zu dem Haus hinüber? Ein Haus am See? Und ein bronzenes Reh auf der Terrasse? Und jetzt Klaviermusik? – Die schwarzen Stiefel hatte man ihr bereits abgenommen, sie rutschte auf Männerlatschen dahin. Und immer, wenn sie rutschte, dann sagte der Posten an ihrer Seite: «Na, na? Paß doch auf!»
    Feindselige Blicke von überall auf die Gefangenen. «Die sind schuld!» dachten die Leute. Die haben die ganze Welt aufgehetzt gegen uns, die haben den Weltenbrand entfacht.
    Ein Bauer langte sogar mit der Peitsche herüber. Kleine Knoten waren in die Lederschnur geschlungen, damit es besser zieht. Und er traf Katharinas Wange.
     
    Wagner sah den «Buben», wie er ihn noch nie gesehen hatte: der schwarze Flügel, die hellen Bilder an der Wand, und dieser Junge, blond, eben noch Kind, der schmale Kopf, das ernst-heitere Gesicht? Warum nur hatte er sich nicht besser um ihn gekümmert, als es noch Zeit war?
    Er hätte mit Peter wandern mögen, wie mit seinen Jungens damals durch das Helgetal.
    Nun war alles zu spät.
    Aber – das tat er ja, mit ihm wandern. Er hatte ihn doch jetzt ganz für sich.
     
    «Weißt du was?» sagte er und klappte den Flügel zu. «Wir ziehen weiter.»
    Den Koffer ließen sie stehen. All diese Chroniken seien hier doch gut aufgehoben, meinte Wagner. Wenn der Hausherr eines Tages zurückkehre, werde er als erstes den Koffer sehen und sagen: ‹Ei, was ist denn das? Alte Papiere? Chroniken gar?› – Ein Schriftsteller könne damit bestimmt was anfangen. Und er dachte an Stifter, «Die Mappe meines Urgroßvaters», oder Keller, oder wo kam das noch vor, daß einer auf dem Dachboden einen Koffer mit Aufzeichnungen findet? Gab es so was bei Herder?
     
    Peter dachte: So ein Haus wie dieses, hell und licht, werde ich mir später auch mal bauen, das ist doch ganz etwas anderes als der düstere Georgenhof, und er setzte sich auf den Schlitten und fuhr den Hügel hinunter, und der alte Mann hielt sich den Hut und lief lachend hinterher. – Sein Vater war nie hinter ihm hergelaufen. In seinem weißen Jackett mit dem Verdienstkreuz ohne Schwerter hatte er in der Tür gestanden. Einmal war er zu ihm aufs Zimmer gekommen, die Reitgerte vom Ausritt zwischen den Händen zum Halbbogen spannend, und hatte gesagt: «Du hast dein eigenes Reich ... » Hatte aus dem Fenster gesehen und gesagt: «Aber aufräumen mußt du mal, wie sieht es denn hier aus?»

Ein Museum
    D ie kleine Stadt stand voll von Bauernwagen. In jeder Straße standen sie, und immer drängten sich noch welche hinein. Die Frauen gingen in die Häuser, um sich etwas zu erbetteln. Wo die Menschen schon geflohen waren, nahmen sie es sich. Ein Haus brannte, die Flammen schlugen fauchend aus den Fenstern, niemand kümmerte sich darum.
     
    Auf dem Marktplatz – rundherum hübsche kleine Giebelhäuser und an der Nordseite das Rathaus – standen die Wagen dicht an dicht, aber die Menschen hatte man weggeholt, die sollten ordnungsgemäß «abtransportiert» werden. Die Pferde wurden gerade ausgespannt, Heil Hitler, die würden dem Militär zugeführt werden. Leute von der Partei gingen zwischen den Wagen mit den hochgestellten
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