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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst
Autoren: Walter Kempowski
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vollschlanken Fürstin mit Pelzkragen in himmelblauem Kleid und mit Orden auf der Brust. Das war die spätere Zarin Katharina die Große, unersättlich in ihrem Liebesdurst, aber eine Freundin der Preußen. Sie war hier durchgereist auf dem Wege nach Petersburg, und von ihr gab es im Volk noch immer deftige Geschichten zu erzählen.
    Auch dieses Bild wurde abgehängt und in eine Decke geschlagen. Auch das wurde mitgenommen. Obwohl es vielleicht angeraten gewesen wäre, es in einer Prozession den wutschnaubenden Russen entgegenzutragen: «Denkt an die große Freundin des deutschen Volkes!»
    Aber, das war der Haken, sie war ja selbst eine Deutsche gewesen.
     
    «Die Ausgießung des Heiligen Geistes» ließen die Soldaten hängen, eine Tafel aus der bereits im Mittelalter abgebrochenen alten Pfarrkirche, riesengroß. Die Jünger hatten kleine Flammen auf dem Kopf, und eine Taube schwebte über ihnenhin. «Das Dings lassen wir hängen», sagten die Soldaten, und der Museumsdirektor, der sich hier aufopferte, wußte es ja auch nicht. Das eine oder das andere würde man später vielleicht noch nachholen können.
    Auch die Farbfenster ließ man zurück, die würden auf dem Transport sowieso zerbrechen.
     
    Peter half mit beim Hinaustragen der Sachen. Auch die Akten des Stadtarchivs sollten gerettet werden, eine Reihe von Ordnern und viele Schachteln mit Grabungsfunden. Stand auf einem dieser Kistchen nicht der Name «Hesse»? Diese Landlehrer mit ihren Grabungsfunden waren gar nicht ohne! Ließe es sich damit nachweisen, daß es sich bei Ostpreußen um urdeutsches Land handelte?
    Der Direktor mit dem Parteiabzeichen stand neben dem Ausgang und sagte jedesmal, wenn die Soldaten etwas heranschleppten: «Vorsichtig, vorsichtig! Das ist alles unersetzlich ... » Er hielt in der Hand ein Kistchen mit dem Petschaft der Stadt. «Dies ist besonders wertvoll, bitte nicht aus den Augen lassen.»
    Daß er fror, merkte er gar nicht. Woher kommt es bloß, daß ich so zittere? fragte er sich.
     
    «Ich glaube, nun haben wir alles», sagte er schließlich. «Nun können wir uns auf den Weg machen.» Er hole eben noch Frau und Tochter ... Eben schnell Frau und Tochter holen ...?
    «Wie alt ist die Tochter? Sechzehn?»
    «Klar, die findet hier noch Platz.»
    Peter wurde gefragt, verdammt noch mal, was er hier herumzustehen hat und was er denn da für ein Kistchen unter dem Arm trägt. Ein Schüler-Mikroskop? Das soll er doch gleich sagen. Verdammt noch mal.
     
    Als sie endlich fertig waren, stieg der Museumsdirektor ins Auto, mit Frau und Tochter. «Wir müssen halt ein wenig zusammenrücken», sagte der Fahrer.
    Die Soldaten sprangen auf die Ladefläche, und Peter fragte nicht lange, der schwang sich auch auf die Ladefläche, und schon ging’s los. Das Kästchen mit dem Petschaft der Stadt blieb auf den Stufen zurück. Aber das Mikroskop hielt Peter eisern unterm Arm.
    Hupend fuhren sie an haltenden Trecks vorüber. Peter sah über die Ladefläche hinweg auf die lange Reihe der Wagen.
    «Ob das wohl mal einer malt», dachte er.
     
    Am Stadttor stand Gendarmerie und überprüfte die Menschen, die hier passieren wollten, ob sie auch alle einen Ausweis haben. Und ob auch kein Mann sich wegmachen will. Heil Hitler. Überschwere Pistolen trugen sie am Koppel und ein Kettenschild um den Hals. Einzeln ließen sie die Wagen durch. Und als sie dann endlich Abstand nahmen von dieser Prozedur und als es dann auch endlich weiterging, der Fahrer des Lastwagens legte gerade den ersten Gang ein und gab Gas, kam Dr. Wagner gelaufen und gestikulierte schon von weitem: Halt! Halt! Peter klopfte an das Führerhäuschen, sie sollten den Herrn mitnehmen, aber vergeblich: Keine Zeit, keine Zeit! – Dr. Wagner sprang mit seiner letzten Kraft an die Ladeluke, aber er rutschte ab, fiel hintenüber auf die Straße, und ein schwerer Wagen fuhr über ihn hinweg.
    «Uhhh! » rief Peter und ließ sich zurückfallen.
    War es das, was Wagner unter «Vollendung» verstanden hatte?
     
    Vor der Stadt, auf der von umgekippten Wagen gesäumten Landstraße, an Leichen und an ausgeplünderten Koffern vorüber, fuhren sie dann wieder an den Trecks entlang. Wenn’s indie Kurve ging, hielt Peter gegen, damit die Bilder nicht umkippten. Die Stößel der Mahlsteine rollten in Halbkreisen über die Ladefläche, manchmal stießen sie gegeneinander, dann schlug es Funken.
    Zeitweilig zählte Peter die Wagen, an denen sie entlangfuhren, waren es tausende? Wie lange mochten sie
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