Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
Bewegung gehalten. «Die Russen kommen!»
    Aber die beiden scherten aus, da waren sie denn nun doch neugierig. Ein Haus an einem See? Mit einem bronzenen Reh davor? Die Sonne schien kräftig, und Peter zog den Schlitten hinauf, einen Augenblick konnte man sich ohne weiteres eine Pause gönnen, da waren sich die beiden einig.
    Auf der Straße unten, in der weißen Landschaft, kroch der Zug dahin. Man konnte es hören, das Geschleife der Räder, das Husten und Rufen der Menschen. Aber hier oben war es still. Ein Kind schrie darüber hin – das hatte wohl seine Mutter verloren.
    Ein weißes Künstlerhaus. Würde man auch hier Leichen finden?
     
    War es das Haus eines Malers? eines Bildhauers? – Nein, hier hatte ein Schriftsteller gewohnt. Die Schreibmaschine stand noch auf dem Tisch, daneben eine leergetrunkene Kaffeetasse. Vom Schreibtisch aus sah man eine Allee entlang zu einem Pavillon, der direkt am See stand. Wahrlich ein schöner Platz zum Dichten!
    Am See ein Bootssteg, ein Bootsschuppen. Und dahinter die Türme der Stadt, zu der hin sich der Zug der Menschen bewegte. Was für Sonnenuntergänge waren von hier aus beobachtet worden! Und wie kräftig schien sie jetzt!
    Die beiden sahen sich um. Die Sonne schien auf den kristallenen Schnee der Terrasse, das funkelte in den Spektralfarben. Was für ein Anblick!
     
    Auf dem Schreibtisch standen Familienbilder: der Dichter selbst mit dicker Brille, die Frau und zwei kleine Kinder, mit Teddy und Puppe im Arm. Das Bild der Frau trug einen Trauerflor. An der Wand über dem Schreibtisch hing ein Hitlerbild, von der Sonne beschienen. Unter dem Bild war eine Widmung auszumachen:
     
    Dem hochverehrten Autor
    Gott hardt Freiherr von Erztum-Lohmeyer zum 50. Geburtstag.
    Adolf Hitler, Führer und Reichskanzler.
     
    Das lieber umdrehen? das bleicht sonst aus?
    Neben dem Arbeitszimmer die Bibliothek, die Türen standenoffen. Wenn der Dichter ein Buch braucht, um etwas nachzuschlagen, legt er die Feder zur Seite und schlendert hinüber ins angrenzende Zimmer. Dort auch eine Couch zum Langmachen. Alles sehr schön.
    Alles sehr geschmackvoll. Die Wände voll klarer heller Bilder, eines neben dem anderen. Junge Menschen in jeder Stellung, der Zukunft zugewandt. Wie Peter sahen sie aus, die jungen Menschen.
    Zu bedauern war es, daß der Dichter das Weite gesucht hatte. Daß er hier jetzt nicht mehr weilte. Er hätte aus seinem Fenster heraus auf die stolze Jugendherberge dort oben gucken können und auf die lange Schlange der Menschen, im gleißenden Schnee, wie sie der Jugendherberge entquillt und, der Straße folgend, sich hin und her schwingt. Was für eine Impression! Ein Dichter hätte aus diesem Bild Kraft geschöpft für ein großes Menschheitsepos! Wenn Menschheit schon leidet, dann soll das auch zu Buche schlagen. Die großen Erzählungen aus dem Dreißigjährigen Krieg. Verdun. Und die Kinder Israel wandern noch immer durch das Rote Meer!
    Wagner hielt die Hand über die Augen, er war irgendwie erschüttert.
     
    An den Büchern hatte sich bisher noch niemand vergriffen. Nur die Scheiben der Bücherschränke waren eingeschlagen. Warum? Vielleicht hatte das der Dichter noch selbst getan? Ein Akt der Verzweiflung?
    Dr. Wagner suchte zähneziepschend nach Herder. Der Besitzer dieses Hauses, der Dichter, mußte auf seinem Bord doch auch Herders Werke stehen haben? Die Klassiker immer zur Hand? Goethe, Schiller, Körner standen nebeneinander – aber nichts von Herder!
    «Ich selbst» – das fiel Wagner jetzt ein – «habe ja auch nichtsvon Herder besessen. Ewige Schande!» Er mußte lachen und nahm sich vor, sowie dies hier alles überstanden sei, sich Her- der zu besorgen. Mein Gott! allein schon deshalb sei es wünschenswert, dies alles hier zu überstehen.
    Mit dem Leben davonzukommen, das müßte doch hinzukriegen sein? Zugrunde gehen, ohne je etwas von Herder gelesen zu haben? Gehörte nicht auch Bildung zur Vollendung des Menschseins?
     
    Peter suchte inzwischen was zu essen, er strich durch Zimmerfluchten, Bilder an allen Wänden.
    In der Küche, wie eben verlassen, lag tatsächlich ein halbes Brot auf dem Tisch. Aber es war steinhart! Peter steckte es ein, und auch ein Glas Marmelade. «Sommer 1944» stand auf dem Etikett. «Johannisbeeren von Hertha».
    Er schüttete Haferflocken in eine Schüssel und streute Zucker darüber. Und er rief Herrn Wagner und sie aßen sich daran satt. Dem Jungen fiel es ein, seinem Lehrer einen der silbernen Löffel zu schenken,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher