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Das Geheimnis der Rosenkreuzerin

Das Geheimnis der Rosenkreuzerin

Titel: Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
Autoren: Marie Klausen
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Kapitel 1
    E in Mann, mit Kippa und Kaftan bekleidet, s prang vom Esstisch auf und griff nach dem Brotmesser. Das fremdländische Aussehen des Schwarzbärtigen wirk te seltsam in der Stube, die ansonsten den Eindruck des Hauptzimmers eines süddeutschen Fachwerkhauses in früherer Zeit vermittelte. Bedrohlich stand ihm ein Pries ter zwischen zwei mit Messern und einer Keule bewaffneten Gestalten gegenüber, die man gut und gern zwie lichtig nennen durfte. Im Kamin prasselte ein trügerische Behaglichkeit verbreitendes Feuer.
    »Das Jüdlein will frech werden«, feixte der Geistliche.
    »Was haben wir euch getan, Chorherr?«
    »Ihr habt unseren Herrgott ermordet! Und wie heißt es doch so treffend: Sein Blut komme über euch!«
    »Flieht, flieht«, rief der Schwarzbärtige seiner Frau und seinen Kindern auf Hebräisch zu. Auf dem Tisch dampfte in einer irdenen Schüssel eine Suppe. Daneben lagen Brotstücke auf einer Platte. Die kleine, rundliche Frau mit dem gütigen Gesicht stand auf und schob ihre beiden Kinder, einen etwa siebenjährigen Jungen und ein vielleicht zwölfjähriges Mädchen, vor sich her. Ein Mann mit Wolfsgesicht, der linker Hand des Priesters stand, stieß ihr im Vorübergehen seinen Dolch in die Seite. »Die wird nicht mehr weit kommen«, höhnte er.
    »Keiner wird unserem Pogrom entkommen, Männer nicht, Frauen nicht, Kinder nicht. Keiner von euch Christusmördern«, triumphierte der Geistliche mit teuf lischer Freude.
    Kaum aus der Tür heraus, wankte die Frau auch schon und glitt langsam und sacht zu Boden, als gäben nur einfach ihre müden Beine nach. Der weiche Schnee umfing sie wie ein großes Daunenbett, während ihr Blick sich noch am Münster festzuhalten versuchte, das auf der gegenüberliegenden Seite des großen Platzes aufragte.
    »Myriam, Myriam, was ist mit Mutter?«, fragte der Junge aufgeregt.
    »Ruhig, ruhig!«, beschwor das Mädchen ihren kleinen Bruder, gleichsam die eigene Panik bekämpfend. Myriam spürte die Gefahr, doch wohin sollte sie sich wenden? Sie war ratlos und überfordert. Statt zu fliehen, hockte sie sich neben die Mutter und ergriff deren linke Hand. Jetzt spürte das Mädchen, wie das Leben dem Körper Grad um Grad entwich, während das Kinn des kleinen Bruders sich schmerzhaft in ihre Halsbeuge grub und er ihre Schulter mit heißen Tränen benetzte, die durch den dünnen Leinenstoff sickerten. Fieberhaft überlegte sie, wie sie das vergehende Leben hindern konnte, den Leib der Mutter zu verlassen. Verzweifelt drückte sie die erschlaffte Hand, in der Hoffnung, ihr auf diese Weise neue Lebensenergie zu übertragen. Dabei flüsterte sie, wie um sich zu betäuben, beschwörend: »Erhoben und geheiligt, sein großer Name, in der Welt, die er erneuern wird. Er belebt die Toten und führt sie empor zu ewigem Leben, er erbaut die Stadt Jeruschalajim und errichtet seinen Tempel auf ihren Höhen …«
    Der Tod umgab sie wie ein eiserner Käfig. Die Glocken des Münsters läuteten Sturm, und der Sensenmann schien ihr Glöckner zu sein. Wie konnte das Mädchen die Einsicht zulassen, dass ihre Mutter tot war? Sie hockte einfach bei ihr und hoffte auf ein Wunder. In ihrem Warten und Hoffen stimmte sie leise auf Hebräisch den siebten Psalm an, nur begleitet vom Wimmern ihres Bruders:
    »Auf dich, HERR, mein Gott, traue ich!
    Hilf mir von allen meinen Verfolgern
    und errette mich, dass sie nicht
    wie Löwen mich packen und zerreißen,
    weil kein Retter da ist …«
    Die gutturale Sprache wärmte sie. Während das Mädchen sang, hoffte es mit allen Fasern seines fast noch kindlichen Herzens, dass entgegen aller Wahrscheinlichkeit ihr Vater die Mörder doch noch überwinden und zu ihnen stoßen, der Mutter die Hand auflegen und sie so heilen würde, denn sie war zutiefst davon überzeugt, dass ihr weiser Vater Wunderkraft besäße. Als vom Müns ter her Schreie, verursacht von entsetzlicher Qual, die ihr wie ein scharfes Messer durchs Herz schnitten, herüberdrangen, blickte sie in diese Richtung, bereute es aber sofort, denn vor ihren Augen fraßen sich gierig Flammen an den Leibern von Menschen empor, die man an Pfähle gebunden hatte. Die lodernden Menschenfackeln nahmen sich makaber aus im Schnee, gleich einem Feuer in der Kälte. Kurz darauf entdeckte sie einen Mann mit funkelnden blauen Augen unter einer hohen Stirn, der sich ihnen vom Münster näherte. Der Schnee vor seinen Füßen war von roten Rinnsalen durchzogen und mit Ruß teilchen bedeckt, die kleinen schwarzen
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