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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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I

GASPARD ENTDECKT DIE STADT
ODER VIELLEICHT AUCH UMGEKEHRT
    Paris, dreckiger, stinkender Nabel Frankreichs. Die Sonne, die am Himmel hing wie das Auge eines Kyklopen, warf eine gnadenlose Hitze auf die Stadt herab, eine stickige Trockenheit. Ein Fieber ergoss sich wie zähflüssiges Wachs über Paris, verwandelte die Behausungen unter den Dächern in Höllen, sickerte durch die engen Gassen, füllte jede Vene und jede Arterie mit seinem Saft, trocknete die Brunnen aus, stand in der flirrenden Luft der Höfe und verlassenen Plätze.
    In dieser Gehenna klebte die Sommerhitze wie eine Maske auf den Gesichtern, ließ die Tiere verenden, die in einer schattigen Ecke verzweifelt ums Überleben kämpften, erstickte die Frauen mit ihren schmierigen Brüsten. In Bächen entließen die Schweißdrüsen ihre Sekrete, die von den haarigen Achseln über Rücken und Hintern bis über die Beine strömten. Auf der Stirn brannte der Schweiß in den Augen, verbreitete sein Salz in den hechelnden Mündern. Dreck lagerte sich ab, markierte die Falten an den Gelenken mit schwarzen Spuren. Man fächelte sich Luft zu mit dem, was man gerade fand, einem alten Lappen, einer Zeitung, der Hand. Rührte dabei den säuerlichen Mief der schwitzenden Körper auf. Der Gestank der einen vermischte sich mit dem Gestank der anderen, auch ohne dass sich die Körper berührten. Und dieser schwebende Menschendunst, der in die Lumpen, in die spärliche Kleidung drang, die nur noch einen Rest von Scham bedeckte, erfüllte die ganze Stadt.
    Es war der Geruch von Paris selbst, sein sommerliches Parfüm. Paris schwitzte, die Stadt brodelte, und die Menge hechelte durch das Labyrinth seiner Eingeweide, schluckte in Happen die abgestandene Luft, schleppte sich kraftlos durch die Avenuen, drängte sich hinein in die Gässchen. Selbst die Marktstände waren wie benommen von der Hitze: das Obst welk, Fleisch und Fisch grünlich, das Gemüse verkümmert. Die unzähligen Fliegen auf den Stapeln ließen sich nicht mehr beeindrucken von der müden Geste einer Händlerin, die mit einem Lappen um sich schlug, bevor sie sich die Stirn wischte, dann ihre Röcke hob, um etwas Luft zwischen ihre feuchten Beine zu lassen. Eine Hand schob sich unter die vielen Schichten von Stoff, um die gereizte Haut zu kratzen. Glänzend, nach Moschus riechend, kam sie wieder zum Vorschein, erhob sich unentschieden, um nach einem Passanten zu rufen, tastete die Früchte ab, rieb sich schließlich an einem Sack Weizen trocken, und fuhr, als der Passant seinen Weg ohne einen Blick fortsetzte, mit einer verächtlichen Geste durch die warme Luft.
    »Verfluchter Bastard«, schimpfte die Frau vor sich hin und sank sogleich wieder in diese unerschütterliche Hitze zurück, die sie umhüllte wie ein Pelzmantel. Ihre Stimme war nicht bis zu dem Gehenden gedrungen, der bereits um eine Straßenecke verschwunden war. Denn selbst in diesem Zustand der Erstickung war Paris noch immer geschwätzig. Nicht einmal die beklemmende Luft vermochte die Stadt zum Schweigen zu bringen. Die schreienden Stimmen, das Klappern der Hufe auf dem Pflaster, das fette Schnaufen der Pferde, das Quietschen der Kutschenräder, das Schlagen von Türen, der zischende Auswurf von Spucke, die Rülpser, die Fürze, das Schnarchen, das Jammern, das derbe Gelächter, das klirrende Geschirr, das Getrampel von Schritten, die Flüche, die Schläge, aneinanderstoßende Körper, das heisere Kreischen der Milchfrauen, Trödler und Wasserträger – das alles bildete ein Höllenspektakel, das der Passant eiligst hinter sich zu lassen suchte.
    Gaspard ging die Rue Saint-Denis hinunter Richtung Seine. Er war am Tag zuvor aus dem bretonischen Quimper gekommen. Die Reise hatte mehrere Wochen gedauert, doch er konnte sich nicht mehr an die einzelnen Etappen erinnern. Sie waren wie ausgelöscht. Lediglich ein Bewusstsein von dem Weg besaß er noch, aber es war eher ein ätherisches, verschleiertes Bewusstsein. Und so war von dieser Irrfahrt nichts als eine Aufeinanderfolge undeutlicher Bilder geblieben. Seine Existenz davor, ganze neunzehn Jahre, gehörte in eine andere Wirklichkeit. Nichts, rein gar nichts von seinem früheren Leben hatte seine Schritte hierher, in die Rue Saint-Denis, gelenkt. Es wäre absurd zu denken, seine Vergangenheit hätte ihn nach Paris geführt und aus ihm den Mann gemacht hat, der er inzwischen geworden war.
    Doch im Rhythmus seiner Schritte kehrte der Hof seiner Eltern in seine Erinnerung zurück; ebenso die
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