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Allein die Angst

Allein die Angst

Titel: Allein die Angst
Autoren: Louise Millar
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den Gardinen, die noch von den Vorbesitzern stammen; später würde sie ihre eigenen Rollos anbringen. Die Frauen waren jünger als sie, vielleicht Anfang dreißig, und strahlten dieses Selbstbewusstsein aus, das viele Frauen in dieser Gegend zu besitzen schienen. Es ließ sich in ihren lässigen, selbstsicheren Bewegungen erkennen. In der Lautstärke, mit der sie ihre Kinder unbefangen bei ihren ausgefallenen Namen riefen, von einer Straßenseite zur anderen oder quer durch den ganzen Laden. Was machten diese Frauen oder ihre Männer beruflich, dass sie sich hier so jung schon ein eigenes Haus leisten konnten? Debs hatte erst jetzt, mit achtundvierzig Jahren, ihr allererstes Haus gekauft.
    Die Amerikanerin war ihr bereits begegnet; sie ging gerade ins Nachbarhaus, die Nr.  13 , als Debs gestern mit dem Umzugswagen ankam. Debs war so erschöpft gewesen, dass sie nicht richtig hingehört hatte, als die Frau sich vorstellte. Hieß sie Sue? Susan?
    Um besser zu sehen, was draußen los war, schob Debs das Gesicht noch dichter an den Vorhang und drückte, ohne es zu merken, mit der Nase ein kleines Zelt hinein. Die Amerikanerin stand an ihrem Gartentor und winkte der anderen Frau nach, die mit einem Kind die Straße überquerte und in die Nr.  14 verschwand. Debs zählte die Kinder, die im Vorgarten nebenan spielten. Eins … zwei … drei … Drei Jungen? Gleich drei? Du liebe Güte. Sie hatte schon gestern Abend den Wutausbruch eines der Jungen mit anhören müssen. Schrill wie ein Papagei hatte er gekreischt, immer wieder, bis Debs dachte, sie würde Migräne bekommen.
    »Debs, fang nicht damit an«, seufzte eine Stimme hinter ihr.
    Sie fuhr herum und sah Allen mit einem Schraubenzieher dastehen.
    Da sprang sie vom Fenster zurück und rief: »Ich habe doch gar nicht …«, aber Allen drehte sich um und ging hinaus, bevor sie den Satz beenden konnte.
    Wie ärgerlich. Jetzt würde er sie wieder beobachten.
    Oje. Kein guter Start.
    Sie hob den Kopf, blickte in den Spiegel über dem Marmorkamin und lächelte entschlossen, bis ihre Augen hinter der Brille mitlächelten. Dann ging sie aus dem Wohnzimmer in die imposante Diele dieses viktorianischen Altbaus. In dieser Diele fühlte sie sich immer noch unwohl. Verglichen mit den winzigen, funktionalen Schachtelzimmern ihrer Wohnung in Hackney, für die der Architekt wohl einen Menschen auf den Boden gelegt und dann um Kopf und Füße Linien für die Mauern gezeichnet hatte, war diese Diele eine weiträumige Höhle. Eine Höhle, in der Debs sich verloren fühlte. Die zu dem abbröckelnden Deckensims hinaufreichte, wo Spinnen lauerten, und sich mit der Treppe in schwindelnde Höhen hob, in den dunklen ersten Stock. Nein, das gefiel ihr nicht. Aber das würde sie Allen nicht erzählen. Rasch ging sie durch den Gang nach hinten zum Esszimmer, das auf der Rückseite des Hauses lag.
    »Wir haben eine eigene Treppe!«, rief sie, um Leichtigkeit in der Stimme bemüht. Allen lächelte gezwungen, schob die abgerutschte Brille wieder hoch und baute weiter am Regal.
    Was sagte sie da? Was kümmerten ihn Treppen? Er war in King’s Cross im düsteren Reihenhäuschen seiner Mutter – übrigens alles umgebaute Stallungen – weiß Gott genug Treppen rauf und runter gestiegen, um ihr unzählige Tassen Tee zu bringen.
    »Kannst du das kurz senkrecht halten, Debs?«, bat Allen.
    »Natürlich, Allen.« Sie hielt die Holzfaserplatte fest, während er die Schraube mit Gegendruck anzog.
    Debs’ Gedanken liefen weiter, während sie auf Allens breite, sommersprossige Hände blickte, die den Schraubenzieher drehten – vor Konzentration traten ihm die Augen hervor. Nein, vielleicht war sie vorschnell gewesen, als sie über die eigene Treppe im neuen Haus so jubelte.
    Aber war das nicht verständlich? Es war nicht ihre Schuld, aber diese ganzen Monate hatten sie zermürbt. Die Monate, in denen die Frau über ihr nachts um halb eins nach Hause gekommen war. Mit ihren Pumps über den Kunststoffboden am Eingang des Mietshauses gestöckelt war. Immer dieselben acht Schritte. Dann fünfzehn Schritte die Treppe hoch, acht Schritte an Debs’ Tür vorbei und weitere fünfzehn Stufen hinauf bis zu ihrer Wohnungstür.
    »Mach schon«, sagte Debs dann immer. Sie lag im Bett, Ohrstöpsel in den Ohren, über die sie zusätzlich ihr Kissen presste. Heute Abend würde die Frau doch bestimmt den richtigen Schlüssel finden? Immer probierte sie es zuerst mit dem falschen und zögerte damit das
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