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Alien 1: Vierhundert Milliarden Sterne

Alien 1: Vierhundert Milliarden Sterne

Titel: Alien 1: Vierhundert Milliarden Sterne
Autoren: Paul J. McAuley
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einer Million Jahren getrennt von
dieser Familie existierten. Mit anderen Worten hatte die Weibliche
dies selbst gesagt.
    »Würden Sie tatsächlich Ihrer Pflicht zuwider
handeln und Ihre Familie opfern?« fragte Dorthy.
    »Zum höheren Wohl der Rasse«, behauptete das
Neutrum.
    Eine Lüge, eine gemeine Lüge! Dorthy versuchte, in die
ausströmende Helligkeit zu blicken. Es war, als versuche sie,
den Schatten einer Schneeflocke vor dem Hintergrund einer Nova zu
erkennen. Einen Moment war ihr ganzes Selbst dem Licht geöffnet.
Der einzige Weg, an den Knoten zu gelangen, war, ihn in ihr Selbst
aufzunehmen – ohne Rücksicht auf die Gefahr eines
Gehirntraumas. Aus weiter Ferne hörte sie Andrews rufen:
»Was machen Sie mit ihr? Hören Sie auf damit! Sofort
aufhören, verdammt…«
    Und übergangslos, wie es schien, lag Dorthy auf dem Boden und
schaute in Andrews’ besorgtes Gesicht, das vom schwarzen Himmel
darüber umrahmt wurde. Einen Moment lang schien es ihr, als
sähe sie alles doppelt. Seine vertrauten Züge waren
überlagert von einer unheimlichen nichtirdischen Maske, einer
Falschheit. Dann fühlte sie die Wesensstruktur des weiblichen
Neutrums verblassen, und sie war wieder sie selbst. Und jetzt
verstand sie den Knoten, den Riß, das Schreckliche, das vor
langer Zeit begangen werden mußte, um diese Welt versteckt zu
halten, um sie vor der Gefahr aus dem Kern zu schützen.
    »Jesus«, knurrte Andrews. »Sagen Sie etwas, Dorthy.
Alles in Ordnung? Es sah aus, als hätten Sie einen Ihrer
Anfälle.«
    »Mir geht’s gut«, antwortete sie – und
schmeckte Blut. Sie hatte sich in die Zunge gebissen. Als sie sich
aufsetzte, bemerkte sie, daß sie sich zu allem
Überfluß auch noch eingenäßt hatte.
    Pech. Aber dafür wußte sie jetzt alles.
    Andrews half ihr auf die Beine, und sie sagte auf Englisch:
»Versuchen Sie keine Tricks. Ich weiß jetzt, warum sie
unbedingt sterben will… und wie ich sie vielleicht
überzeugen kann, von ihrem Vorhaben abzulassen.«
    »War es nicht sie, die Ihnen das alles angetan hat?«
    »Nicht unbedingt. Ich bin in ihr Bewußtsein
eingedrungen. Und ich habe gesehen.« Dorthy lächelte
und fühlte, wie ihr dabei ein Blutstropfen das Kinn herablief.
»Ich dachte, ich hätte das Therapieren schon längst
aufgegeben.«
    »Benutzen Sie meinetwegen weiterhin Ihr TALENT, aber jetzt
haben wir gerade noch eine Stunde Zeit bis zu unserem vereinbarten
Treffen mit Angel. Wenn wir hier noch länger herumhängen,
wird sie ohne uns verschwinden, und die Navy wird die Sonne
beschießen. Wenn Sie noch etwas tun wollen, tun Sie es
gefälligst rasch.«
    »Vertrauen Sie mir«, sagte Dorthy und wandte sich dem
weiblichen Neutrum zu, das, sollte es mitbekommen haben, was
geschehen war, sich jedenfalls nichts anmerken ließ. Auf
Portugiesisch sagte Dorthy: »Ich hätte erkennen
müssen, daß Sie sterben wollen, als Sie uns Ihre seltsame
Deutung der Sonette mitteilten.«
    »War sie falsch?«
    »Die dunkle Lady war nicht Gott. Sie war nur eine ganz
gewöhnliche Frau, eine Weibliche. Der Dichter drängte
seinen Herrn und Gönner, sie zu heiraten – die Frau, die
auch er liebte. Dies ist die Dichotomie, der die Inhalte der Sonette entsprangen. Darin sind Schmeicheleien enthalten.
Ebenso kommt darin aber die Nichterfüllung einer schweren,
schmerzlichen Pflicht zum Ausdruck, wie auch des Dichters
unsterbliche Liebe, so unsterblich wie seine Kunst. Sie sahen darin
nur, was Sie sehen wollten: eine zwanghafte Todesbesessenheit, einen
Weg, den Ihre Schwestern vor langer Zeit aus Scham wählten. Aber
nicht Ihr habt Schande über euch gebracht, eure Vorfahren waren
es, die so handelten, um diese Welt vor dem Untergang zu bewahren.
Das war falsch, ja, aber Sie dürfen deswegen nicht zulassen,
daß Ihre Familie jetzt untergeht. Dadurch würde die
Schande auch nicht getilgt. Ich weiß jetzt alles. Ich
weiß, was damals geschah.«
    »Und ich wußte, daß Sie gefährlich sind. Ja,
ich wußte es.« Die Weibliche betrachtete Dorthy mit
großen, funkelnden Augen. Hinter ihr scharrten die Hüter
verwirrt mit den Füßen. Das zwanghafte Netz der Routine in
ihren Köpfen lockerte sich.
    »Was soll das alles? Von welcher Schuld sprecht ihr
eigentlich?« Andrews schaute nervös von einer zur
anderen.
    »Vor ungefähr einer halben Million Jahren«,
erklärte Dorthy und erwiderte fest den starren Blick der
Weiblichen, »entstand eine Zivilisation auf einer der Welten
eines nahegelegenen Sterns. Wir nennen den Stern
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