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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman
Autoren: Heyne
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er Anna kurz den Finger auf die Lippen. Während sie eine Stufe nach der anderen hinter sich brachten, dachte Sebastian darüber nach und versuchte diese Gedanken hinter anderen, harmloseren zu verbergen. Es war eine sonderbare, bizarre Art von Schizophrenie: Er versuchte, sein Ich
zu teilen und mit der einen Hälfte Überlegungen anzustellen, die der anderen verborgen blieben.
     
    »Du musst ihn töten«, sagt Nikolaus ruhig.
    Sie sitzen auf einer Felsplatte, fünfzig oder sechzig Meter über dem Dorf, dessen weiße Häuser sich an den Hang schmiegen. Sebastian kennt diese Stelle: Von hier aus sieht er das kleine Haus, in dem Nikolaus mit Elisa gelebt hat, und auch das Grab. Die Sonne geht unter, und ein Moment des Friedens breitet sich aus. Doch Sebastian kann nicht an ihm teilhaben und richtet einen erschrockenen Blick auf Nikolaus.
    »Bring mich zurück«, sagt er drängend. »Bitte. Anna braucht mich.«
    »Keine Sorge, du bist bei ihr …«
     
    Sebastian blinzelte in der Düsternis, und vor ihm schien es in dem Grau kurz zu flackern. Krystek hatte weit unten das Ende der Treppe erreicht und näherte sich zielstrebig einem schmalen Tunnel. Neben ihm ertastete sich Anna einen Weg durch die Finsternis.
     
    »Vielleicht ist dies das letzte Mal, dass wir miteinander sprechen können«, sagt Nikolaus und blickt zum wie in Flammen stehenden Horizont. »Ihr seid gleich da.« Er dreht den Kopf und sieht Sebastian an, ein alter, kluger, in gewisser Weise zeitloser Nikolaus, der mehr gesehen hat als jemals ein Mensch zuvor. »Du musst ihn töten. Das weißt du, nicht wahr?«
    »Was geschieht mit dir?«, fragt Sebastian.
    Nikolaus atmet tief durch. »Meine Mission ist beendet. Ich hoffe, endlich Ruhe zu finden.«
    »Du würdest mit ihm sterben.«
    »Ich werde mit ihm sterben. Etwas von meinem Blut fließt in seinen Adern, Sebastian. Manchmal glaube ich, Raffaele zu sein, aber das
stimmt nicht. Er ist er selbst, ein ferner Nachfahr meines Sohnes Daniele, Fleisch meines Fleisches. Ich war es, der ihn vor achthundert Jahren zum Tod verurteilt hat.«
    »Ein Kind«, murmelt Sebastian. »Ich weiß nicht, ob ich ein Kind töten kann. Gibt es keine andere Lösung?«
    »Raffaele ist ihr Fokus«, sagt Nikolaus und meint die Sechs. »In ihm vereint sich ihre Kraft. Er ist die Hand, die die Barriere zerreißt. Töte ihn, Sebastian. Ich helfe dir, so gut ich kann.«
    Plötzlich kommt Wind auf, überraschend kalt, und Nikolaus erhebt sich. Sein Gesicht, die ganze Gestalt, scheint an Substanz zu verlieren und zu schrumpfen. »Es gibt keine andere Lösung …«, sagt er. Die Stimme wird immer leiser und beim letzten Wort zu einem Flüstern, das sich im Wind verliert. Sebastian steht ebenfalls auf, schaut über den Hang zum Dorf und dann zum Horizont. Die untergegangene Sonne hat den Himmel dort rot gefärbt, aber es sieht nicht mehr nach Flammen und Feuer aus, sondern nach Blut.
     
    Vor Krystek hatte sich eine weitere Öffnung gebildet, und diesmal wartete er, bis Sebastian und Anna zu ihm aufschlossen, bevor er durch den Spalt trat. Anna stieß mit dem Kopf an einen für sie in der Dunkelheit verborgenen Felsvorsprung, und als sich Sebastian ihr zuwandte, spürte er mit plötzlicher Deutlichkeit die Präsenz des Dolchs in seiner Tasche. Er hatte es geschafft, Anna nicht zu töten, aber wie sollte er vermeiden, zum Mörder eines Kinds zu werden?
    Der Durchgang war so eng, dass Sebastian Annas Hand loslassen musste. Vor ihm wand sich Krystek wie eine Schlange durch den Spalt, und vielleicht war das mehr als nur ein Bild: Sein Körper schien kurz zu verschwimmen und sich dann wieder zu verfestigen.

    Mit einem leisen Knistern schloss sich der verborgene Zugang hinter ihnen.
    »Wir haben unser Ziel erreicht«, sagte Simon Krystek mit der anderen Stimme.
    Die Höhle war so groß, dass Sebastian nur einen Teil von ihr sah - der Rest blieb auch für ihn in der Dunkelheit verborgen. Seltsame Zeichen zeigten sich hier und dort an den Wänden, neben primitiven Malereien, die mehrköpfige, vielbeinige Ungeheuer und käferartige Wesen darstellten. An einer Stelle tropfte Wasser von der hohen Decke in einen kleinen Tümpel. Auf der gegenüberliegenden Seite bemerkte Sebastian eine lange Treppe, die recht steil nach oben führte, schließlich in der Finsternis verschwand. Links davon, dort, wo sich die Höhle ein wenig verjüngte, ragten zwei Säulen auf, und mattes, seltsam kalt wirkendes Licht ging von ihnen aus.
    Anna löste ihre Hand aus der
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