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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman
Autoren: Heyne
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praktisch nichts gegen
die Nephilim ausrichten können, die mit jedem verstreichenden Moment mehr Kraft aufnehmen. Er weiß auch, was das für ihn bedeutet: Er muss schnell handeln, bevor das Wesen in ihm so stark wird, dass Nikolaus seinen Einfluss nicht länger eindämmen kann.
    »Die Stadt brennt«, sagt Anna an seiner Seite.
    Sebastian legt den Arm um ihre Schultern, und plötzlich verschwindet jeder Zweifel aus ihm. Eigentlich ist die Entscheidung nicht schwer, wenn so viel auf dem Spiel steht. Die Flammen zeigen es ihm. Ihr Leuchten in der Nacht sagt ihm: Sieh her, dies kann passieren. Willst du das zulassen?
    »Sie könnte brennen«, erwidert Sebastian. »Die ganze Welt könnte brennen. Ich muss es tun.«
    »Ich weiß«, sagt Anna. Sie schmiegt sich kurz an ihn, hier oben auf der Felsnadel, während sie gleichzeitig in der fernen, tiefen Kaverne steht, bei den zwei Säulen. Noch mehr Geschöpfe drängen sich um sie, ohne sie erreichen zu können, denn die Trennung existiert noch - die Membran ist noch nicht zerrissen. Und es gibt nur eine Hand, die sie zerreißen kann.
    »Ich werde mich dafür bis zum letzten Tag meines Lebens schuldig fühlen«, murmelt Sebastian und denkt an Nikolaus, den die Schuld über den Tod hinaus verfolgte, über achthundert Jahre hinweg. Für einen Augenblick glaubt er zu wissen, wie sich Nikolaus gefühlt haben muss.
    »Vielleicht ist dies der letzte Tag«, sagt Anna.
    »Ja.« Sebastian nickt und atmet tief durch. »Ja, vielleicht ist er das.« Jetzt, denkt er.
     
    Jetzt, dachte er. Hier.
    Die Felsnadel in der Ferne, durch die Membran gesehen, war leer. Niemand stand auf ihr. Ich bin hier, dachte Sebastian. Ich bin ganz hier.
    Krystek und die anderen hatten einen Halbkreis vor den
beiden Säulen gebildet, und Raffaele trat vor, streckte den Kreaturen, die sich auf der anderen Seite der dünnen Barriere vor ihm verneigten, die Hand entgegen. Sein Zeigefinger berührte die Membran, und sie kräuselte sich wie die Oberfläche von Wasser. Ein Kraftstrom entstand, gespeist von der Energie zahlloser ausgelöschter Leben, von Leid und Schmerz, und ein Prickeln wie von statischer Elektrizität erfasste Sebastian. Er merkte, dass er Teil des Halbkreises war, einer der Sechs, Teil des Stroms, der zu Raffaele vor der Membran führte. Der Junge … eine Marionette, gesteuert von Fäden, die achthundert Jahre in die Vergangenheit reichten, und sogar noch viel weiter, Jahrtausende, bis in eine Zeit, als die Menschen ihre Welt mit den Ersten geteilt hatten und kaum mehr gewesen waren als ihre Diener. Erneut hob Raffaele die Hand, und diesmal krümmte er die Finger wie Krallen und bohrte sie in die Membran …
    Sebastian löste sich aus dem Halbkreis und wollte loslaufen, aber etwas stemmte sich ihm entgegen - die Luft schien viel dichter zu werden, und klebrig wie Schleim. In ihm heulte der Nephilim; er achtete nicht darauf, blieb ganz darauf konzentriert, in Bewegung zu bleiben und den Dolch aus der Tasche zu holen. Die Übelkeit kehrte zurück, und mit ihr die Kopfschmerzen, ein wildes, lautes Pochen zwischen den Schläfen, aber auch davon ließ er sich nicht ablenken. Hier und jetzt, der Dolch und Raffaele, darauf reduzierte sich alles. Er hob die Klinge, zielte auf die Stelle zwischen den kleinen Schulterblättern des Jungen, zwang den ganzen Willen und all seine Kraft in Arm und Hand …
    Eine andere Hand streckte sich aus, schmal und feingliedrig, und zog ihm ohne sichtbare Anstrengung den Dolch aus den
Fingern. Die Frau stand vor ihm, jene Frau - Yvonne -, deren Hand wie mütterlich auf der Schulter des Jungen geruht hatte. Ihre vollen Lippen deuteten ein Lächeln an, doch die Augen blickten kalt. Sie nahm ihm den Dolch ab, lächelte erneut und warf ihn. Sebastian beobachtete, wie die Klinge auf die Membran zuflog, sie durchdrang und auf der anderen Seite gegen den Panzer einer Kreatur schlug, die wie eine bucklige, pockennarbige Heuschrecke aussah. Der Dolch prallte mit einem Klacken ab, das Sebastian ganz deutlich hörte, und ein anderes Geschöpf schnappte danach und zerbrach die Klinge zwischen kräftigen Kiefern.

56
    Paris
    D er Pfiff, dachte Sebastian, als ihm die Frau einen Stoß gab, der ihn nach hinten taumeln ließ, zurück in den Halbkreis. Krysteks Pfiff. Er hörte ihn noch einmal, in seiner Erinnerung, den Teil, den er nicht verstanden und auf den er nicht geachtet hatte: eine Warnung. Krystek hatte gewusst, dass er nicht völlig unter der Kontrolle des Nephilim in ihm
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