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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman
Autoren: Heyne
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weiter, hinter mehrere kleine Felsen, auf die vor Jahrtausenden menschliche Flüchtlinge große rote Augen gemalt hatten.
    »Bleib liegen«, sagte er und konzentrierte sich diesmal darauf, so zu sprechen, dass sie ihn verstand.
    »Bastian …«
    »Halt den Kopf unten. Steh nicht auf!«
    Anna nickte.
    Die Maschinenpistolen schwiegen. Sebastian richtete sich auf und konnte beobachten, wie einige letzte Kugeln die Membran neben Raffaele durchschlugen und mehrere Geschöpfe dahinter trafen, ohne erkennbaren Schaden anzurichten. Der Junge hatte sich halb umgedreht und sah zu Yvonne und den anderen, die sich den Bewaffneten zugewandt hatten. Die Gestalten in den Kampfanzügen standen völlig reglos da, wie gelähmt, als Yvonne und die anderen Nephilim ihnen nacheinander die Waffen abnahmen. Die Frau mit dem blonden Haar war am Kopf verletzt worden, doch die Wunde schloss
sich bereits. Bei einem der Männer waren Anzugjacke und Hemd durchlöchert und zerfetzt, die Haut darunter aber schon wieder glatt.
    Noch immer ging das Brausen durch die große Höhle, wie die Brandung eines aufgewühlten Meers. Raffaele drehte sich wieder ganz zur Barriere um, bohrte seine Finger erneut in die Membran und erweiterte den bereits recht großen Riss. Er empfing nach wie vor Kraft von den Nephilim, auch von dem Wesen in Sebastian, das sich mit dem Herzschlag der Welt ausdehnte. Der Einfluss von Nikolaus ließ nach, das spürte Sebastian.
    Zwischen den Säulen, auf der anderen Seite, erreichten die ersten Kreaturen die Barriere und stemmten sich dagegen. Die Membran wölbte sich - es quietschte, laut und unangenehm schrill -, und Raffaele schickte sich an, sie endgültig aufzureißen.
    Sebastian schob alles beiseite und konzentrierte seine ganze Kraft auf das Jetzt , auf diese wenigen, entscheidenden Sekunden. Er lief los, schneller als der schnellste menschliche Sprinter, sprang an Krystek vorbei, der die Hand ausstreckte und ihn aufzuhalten versuchte, stieß dann Yvonne zur Seite. Nur zwei Sekunden waren vergangen, als er Raffaele erreichte, einen scharfkantigen Stein nahm und damit ausholte, dazu entschlossen, den Jungen - den unschuldigen, missbrauchten Raffaele - damit zu erschlagen.
    Der Stein, spitz und fest, zielte auf den Kopf des Kinds, doch im letzten Augenblick zögerte Sebastian. Mord konnte, durfte nicht die Lösung sein.
    Er ließ den Stein fallen, ergriff den Knaben an den Schultern und drehte ihn zu sich herum. Ihre Blicke trafen sich, wie in der Kirche von Drisiano, doch diesmal lag ein Flehen tief in Raffaeles Augen …

    Die Sonne steht eine Handbreit über dem Horizont, und weiter unten am Hang erklingen Stimmen in dem kleinen kalabrischen Dorf. Männer und Frauen, die meisten vom Alter gebeugt, gehen durch die schmalen Gassen, aber während Sebastian sie noch beobachtet, verschwinden sie nacheinander, und es breitet sich eine Stille aus, in der nicht einmal das Zirpen von Grillen und Zikaden Platz findet. Die Sonne geht unter, schneller als sonst, und der Tag weicht Dunkelheit.
    Sebastian steht auf, klettert den Hang hinunter und nähert sich dem einen Haus, das abseits der anderen steht. Sein Ziel sind die drei Gräber; er weiß, wen er dort finden wird.
    Ein Junge sitzt neben den Grabsteinen, etwa neun Jahre alt, das Hemd und die kurze Hose schmutzig. Mit angezogenen Beinen hockt er da, den Kopf auf die Knie gelegt, und weint leise. Sebastian setzt sich neben ihn.
    »Er hätte sicher gern mit dir gesprochen, hier, an diesem Ort«, sagt er nach einer Weile.
    Daraufhin dreht der Junge den Kopf und wischt sich die Tränen von den Wangen. »Wen meinst du?«
    »Deinen Ururur…großvater - ich weiß nicht, wie viele Generationen euch trennen. Er liegt hier begraben, neben seiner Frau Elisa und seinem treuen Freund Hubertus, der ihn von Köln bis hierher nach Kalabrien begleitete.«
    »Von Köln?«, fragt Raffaele, und Sebastian erzählt ihm die ganze Geschichte des Kreuzzugs, während Sterne über den Himmel ziehen und die Nacht Kühle bringt. Um sie herum herrscht noch immer Stille.
    »Nikolaus tut mir leid«, sagt Raffaele schließlich.
    Sebastian legt ihm den Arm um die Schultern und stellt fest, dass er nicht mehr weint.
    »Mir auch. Er hat sehr gelitten, weit über sein Leben hinaus. Achthundert Jahre lang. Ihm verdanke ich, dass ich noch ich selbst bin und
hier mit dir sitze. Seine Kraft bewahrte mich davor, ganz dem Nephilim in mir zum Opfer zu fallen. Aber jetzt ist er tot, endgültig tot. Wir sind allein,
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