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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman
Autoren: Heyne
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erleuchtet. Aber Sebastian sah genug, um nirgends anzustoßen, im Gegensatz zu Anna, die sich trotz seiner Hilfe einen blauen Flecken nach dem anderen holte. Wenn er seine ganze Aufmerksamkeit auf sie richtete, vernahm er das Wispern und Raunen ihrer Gedanken, und mit etwas mehr Mühe hätte er in diesem geistigen Flüstern vielleicht einzelne Worte verstehen können. Er wagte es jedoch nicht zu versuchen, Krysteks Denken zu erfassen, aus Furcht, sich damit zu verraten. Er beherrschte jetzt die Sprache dieser Geschöpfe, und Krystek schien zu glauben, dass sich der Nephilim in ihm durchgesetzt hatte. Sebastian wollte nicht, dass er daran zu zweifeln begann und ihm erneut seinen Willen aufzwang - das hätte ihm die letzte Chance genommen.
    Aber wie konnte Krystek nicht merken, dass Sebastian noch immer genug Mensch war, um einen eigenen Willen zu haben? Und wie gelang es Sebastian, dem Einfluss der fremden Kreatur in seinem Innern standzuhalten? Es ging ihm besser als vorher. Die Übelkeit war nicht mehr so stark, dass sie ihm das Gefühl gab, sich übergeben zu müssen, und auch die Kopfschmerzen hatten nachgelassen. Wenn er den Blick nach innen richtete, sah er eine Ruhe, die ihm angesichts der Umstände sehr seltsam erschien. Vielleicht, so dachte er, war es die Ruhe vor dem Sturm, eine letzte Gelegenheit für ihn, ein wenig Kraft zu sammeln. Er vermutete, dass irgendwie Nikolaus dahintersteckte.

    Drei oder vier Meter weiter vorn blieb Simon Krystek an einer sehr massiv wirkenden Felswand stehen, an der Salzablagerungen weiße Schichten gebildet hatten, die sogar in der Düsternis glitzerten. Sebastian fragte sich kurz, wie es ihm möglich war, in einer völlig lichtlosen Umgebung zu sehen. Welche Reize empfingen seine Augen, aus denen das Gehirn Bilder schaffen konnte? Er verdrängte diesen Gedanken, und auch alle anderen, als er Krysteks Blick spürte, stellte sich einen Ozean vor, wild und aufgewühlt, die Wellen schaumgekrönt, und das Fauchen des Winds, der darüber hinwegfegte und die Wogen hochpeitschte. An diesem Bild hielt er fest, hörte die Stimmen von Meer und Wind und beobachtete, wie sich Krystek wieder der Wand zuwandte. Er berührte einige Stellen, an denen Sebastian bei genauem Hinsehen verblasste Symbole erkennen konnte. Ein Knirschen kroch durch die Düsternis, laut genug, um Anna zu erschrecken. Sebastian spürte, wie sie zusammenzuckte, und er schloss die Hand ein wenig fester um die ihre.
    Eine Öffnung bildete sich in der Felswand, und Krystek trat hindurch. Sebastian folgte ihm und zog Anna vorsichtig hinter sich her.
    Die Rücksicht, die er auf sie nahm … hätte sie Krystek nicht verdächtig erscheinen müssen? Sebastian wusste inzwischen, dass ihm Nikolaus - der ebenfalls in ihm steckte, zumindest ein Teil von ihm - dabei half, dem fremden Einfluss standzuhalten und die eigene Identität zu bewahren. Konnte er, auf welche Weise auch immer, Krysteks Denken beeinflussen?
    Oder war dies alles nur eine Illusion von Freiheit, geschaffen von dem Nephilim, der längst große Teile von Sebastians Bewusstsein übernommen hatte und ihn in Sicherheit wiegte,
um mit dem Rest leichtes Spiel zu haben? Wo hörten Vorstellungen und Befürchtungen auf, wo begann die Wirklichkeit?
    Hinter ihnen schloss sich die Öffnung in der Felswand wieder. Simon Krystek war ohne zu zögern weitergegangen, eine Treppe hinunter, deren Stufen mit einfachen Werkzeugen grob ins Gestein gehauen waren. Links davon ging es steil in die Tiefe, und Sebastian gab Anna zu verstehen, dass sie möglichst weit rechts bleiben solle. Hier kam sie noch schwerer voran, denn die Stufen waren nun höher und manchmal recht schief; Anna musste sich langsam einen Weg nach unten suchen. Der Abstand zu Krystek wuchs - für Sebastian wurde er nach und nach zu einem Schemen in dem undeutlichen, fast konturlosen Dunkelgrau weiter unten. Er ließ sich von der wachsenden Entfernung nicht zu dem Fehler verleiten, unvorsichtig zu werden. Selbst wenn Krystek außer Sicht geriet: Geistig blieb er präsent.
    Einmal gab Anna vor, zu stolpern und das Gleichgewicht zu verlieren, und als er sie mit beiden Händen festhielt, kam sie nahe genug, um ihm ins Ohr zu flüstern: »Was hast du mit Raffaele vor?«
    Damit stellte sie genau die Frage, der er bisher ausgewichen war. Er hatte es vermieden, darüber nachzudenken, aus Furcht davor, dass Krystek etwas merkte, und vielleicht auch aus Furcht vor sich selbst und dem, was notwendig sein mochte. Erneut legte
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