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Adiós Hemingway

Adiós Hemingway

Titel: Adiós Hemingway
Autoren: Leonardo Padura
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kämpfen, töten, angeln, musste leben, um schreiben zu können.
    »Nein, verdammt, ich hab mir keine Biografie erfunden«, sagte er mit lauter Stimme, und diese Stimme inmitten der tiefen Stille gefiel ihm nicht. Er trank das Glas bis auf den letzten Tropfen leer.
    Die Chiantiflasche unterm Arm und das Glas in der Hand, ging er zum Fenster und sah in den Garten und in die Nacht hinaus. Er strengte seine Augen an, bis sie ihm fast wehtaten, er wollte die Dunkelheit durchdringen wie die afrikanischen Raubkatzen. Es musste doch mehr geben als all dieses Vorhersehbare, all diese Routine! Irgendetwas, das den letzten Jahren seines Lebens irgendeinen Reiz verleihen konnte. Das Grauen der Verbote und Medikamente, der Vergesslichkeit und der Ermüdung, der Schmerzen und des Alltagstrotts, das konnte doch nicht alles sein! Wenn das alles war, dann hätte das Leben ihn vernichtet, ihn zerstört, ausgerechnet ihn, der immer verkündet hatte, ein Mann könne vom Leben aufgerieben, aber niemals besiegt werden. Alles nur Scheiße. Rhetorik und Lüge, dachte er und goss sich erneut Wein ins Glas. Er musste trinken. Es drohte eine schlimme Nacht zu werden.
    Wäre aber Miss Mary zu Hause gewesen, dann hätte jene Nacht vielleicht nicht das Ende seines Lebens eingeläutet.
    Über dem alten Holztor hing ein dreckiges Schild mit verblasster Schrift:
     
    WEGEN INVENTUR GESCHLOSSEN WIR BITTEN UM ENTSCHULDIGUNG
     
    Wo zum Teufel mögen sie das herhaben?, fragte sich El Conde. Auch das zweite Schild, das Hemingway über eben dieses Tor der Finca Vigía hatte anbringen lassen, irritierte ihn: UNINVITED VISITORS WILL NOT BE RECEIVED, stand da abweisend, auf Englisch, so als könnten nur aus der englischsprachigen Welt unerwünschte Besucher diesen verlassenen Ort außerhalb Havannas aufsuchen wollen. Und die anderen? Was waren die denn dann? Ungeziefer? El Conde stieß einen der beiden Torflügel der zu einem Museum gewordenen Finca Vigía auf, wo ihn ein Mangobaum und mehrere Palmen empfingen, die zweifellos älter waren als die Finca. Er ging zum Haus, in dem der Schriftsteller samt seinem Ruhm die meiste Zeit gelebt hatte. Hier waren einige der berühmtesten Männer und einige der schönsten Frauen des Jahrhunderts zu Gast gewesen.
    Kaum hatte Mario den Fuß auf diesen zutiefst literarischen Boden gesetzt, beschlich ihn das Gefühl, das Allerheiligste seiner Erinnerung zu betreten, das er lieber verschlossen gehalten und der Obhut eines wohlwollenden, diskreten Gedächtnisses überlassen hätte. Mehr als zwanzig Jahre hatte er diesen Ort nun nicht mehr besucht, zu dem er damals – stets ohne eingeladen zu sein, also unerwünscht – Dutzende von Malen gepilgert war. Das war in jenen Jugendjahren gewesen, als er davon zu träumen begann, ebenfalls Schriftsteller zu werden. Der Mythos des alten Leoparden mit seinen Geschichten vom Krieg und von der Jagd, seinen messerscharfen Erzählungen und lebensprallen Romanen, mit seinen scheinbar so schlichten und gleichzeitig tiefsinnigen Dialogen – es gab kein besseres Vorbild für das, was Literatur sein konnte und wie ein Mann sein musste, der mit jeder Faser für die Literatur lebte. Mario hatte jedes seiner Bücher gelesen, mehr als einmal sogar, und um den Geist des berühmten Mannes zwischen den kleinen und großen Trophäen, mit denen er sich im Laufe der Jahre umgeben hatte, einzufangen, hatte er oft genug durch die Fenster in das herrschaftliche Haus gesehen, das kurz nach dem Tod seines Besitzers in ein Museum umgewandelt worden war.
    Von all den Ausflügen zu Hemingways Anwesen in jenen Jahren, die in der Rückschau glücklicher schienen, als sie in Wirklichkeit gewesen waren, konnte er sich an einen, den er mit seinen Schulfreunden unternommen hatte, besonders schmerzhaft erinnern. Noch immer waren ihm die Einzelheiten gegenwärtig. Es war an einem Samstagmorgen gewesen, sie hatten sich an der Außentreppe des Gymnasiums verabredet: der dünne Carlos, der damals noch dünn war; Dulcita, die Freundin des Dünnen; Andrés, der ein guter Baseballspieler war und bereits davon träumte, Arzt zu werden, aber noch nicht an die Möglichkeit dachte, aus Kuba fortzugehen; der Hasenzahn mit seiner fixen Idee, die Geschichte umzuschreiben; der rote Candito mit seinem imposanten Afrolook und zwei Literflaschen Rum, die er in weiser Voraussicht in seinen Rucksack gepackt hatte; und die schöne Tamara, so schön, dass es wehtat, Tamara, die bereits damals die Liebe seines Lebens (und seines Todes)
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