Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Adiós Hemingway

Adiós Hemingway

Titel: Adiós Hemingway
Autoren: Leonardo Padura
Vom Netzwerk:
gegeben hatte, auf die Spur zu kommen. Diese Erzählung hatte er zehn Jahre zuvor als Kurzgeschichte begonnen, und jetzt drohte sie ins Unermessliche auszuufern. Er hatte sie sich nur deshalb wieder vorgenommen, weil er es nicht schaffte, die Überarbeitung von Tod am Nachmittag fortzuführen, auch wenn er das niemals zugegeben hätte. Für die geplante Neuausgabe musste er diesen Roman über Kunst und Philosophie des Stierkampfs grundlegend überarbeiten, aber er hatte das Gefühl gehabt, sein Gehirn arbeite zu langsam. An früher vertraute Einzelheiten konnte er sich oft nur mit Mühe erinnern, und manchmal musste er sogar grundlegende Dinge über den Stierkampf nachschlagen, um sie sich wieder vor Augen zu führen.
    An jenem Mittwochmorgen des 2. Oktober 1958 hatte er es auf dreihundertsiebzig Wörter gebracht, und mittags war er geschwommen, allerdings ohne die Bahnen zu zählen, um sich nicht zu schämen wegen der lächerlichen Leistung im Vergleich zu der täglichen Meile, die er bis vor drei oder vier Jahren noch geschafft hatte. Nach dem Mittagessen hatte er sich vom Chauffeur nach Cojimar fahren lassen, um mit seinem alten Freund Ruperto zu sprechen, dem Kapitän der Pilar, und ihm von seiner Absicht zu erzählen, am darauf folgenden Wochenende in den Golf hinauszufahren. Außerdem wollte er seinem erschöpften Hirn eine Ruhepause gönnen. Gegen Abend dann fuhr er direkt nach Hause zurück, ohne seinem Verlangen nachzugeben und an der Theke des ›Floridita‹ Halt zu machen, wo er sich nie mit einem einzigen Glas begnügen konnte.
    Er aß mit großem Appetit zwei mit Zwiebelringen bedeckte Scheiben gegrillten Schwertfisch und einen großen Teller Gemüse, nur mit Zitronensaft angerichtet. Um neun bat er Raul, den Tisch abzuräumen, die Fenster zu schließen und dann nach Hause zu gehen. Vorher jedoch sollte er ihm eine Flasche von dem in der Woche zuvor eingetroffenen Chianti heraufholen. Zum Essen hatte er einen leichten, blumigen Valdepeñas getrunken, und nun verlangte sein Gaumen nach dem trockenen, herben Geschmack des italienischen Weines.
    Als er sich vom Tisch erhob, bemerkte er einen Schatten an der Tür. Es war Calixto, der seinen schwarzen Kopf ins Zimmer steckte. Ihn wunderte immer, dass der Kubaner, der der Ältere von ihnen beiden war und obendrein fünfzehn Jahre im Gefängnis gesessen hatte, noch kein einziges graues Haar hatte.
    »Kann ich reinkommen, Ernesto?«, fragte der Mann, und Hemingway forderte ihn mit einer Handbewegung zum Eintreten auf. Calixto kam ein paar Schritte näher und sah ihn prüfend an. »Wie geht es dir heute?«
    »Gut. Ich glaube, gut.« Er zeigte auf die leere Flasche, die auf dem Tisch stand.
    »Das freut mich.«
    Calixto war das Faktotum der Finca. Er half dem Gärtner, vertrat den Chauffeur, wenn dieser Urlaub machte, ging dem Schreiner zur Hand oder strich die Wände. Zurzeit war er auf Veranlassung von Miss Mary – wie sie von allen, sogar von ihrem Mann, genannt wurde – damit betraut, des Nachts die Finca zu bewachen und damit auch den Hausherrn, der auf dem großen Anwesen nicht alleine bleiben sollte. Wenn das nicht die Bestätigung dafür war, dass ihn alle als alten Mann betrachteten, was war es dann, verdammt noch mal? Er und Calixto kannten sich seit fast dreißig Jahren, seit der Zeit, als der Schwarze bei Key West Alkohol geschmuggelt und an Joe Russell verkauft hatte. Oft hatte Hemingway mit ihm zusammen im ›Sloppy Joe’s‹ oder in seinem Haus in Key West getrunken und den Geschichten des stämmigen Kubaners mit den unheimlich schwarzen Augen gelauscht, der während der Prohibition mehr als zweihundert Mal die Floridastraße überquert hatte, um kubanischen Rum in den Süden der Vereinigten Staaten zu bringen. Später hatten sie sich aus den Augen verloren, und als Hemingway anfing, nach Kuba zu fahren und Havannas Straßen zu durchstreifen, erfuhr er, dass Calixto im Gefängnis saß, weil er bei einer Schlägerei in einer Hafenkneipe einen Mann getötet hatte. 1947 wurde er freigelassen, und sie trafen sich zufällig vor dem ›Floridita‹. Als Calixto von seinen Problemen erzählte, bot Hemingway ihm Arbeit an, ohne so recht zu wissen, worin diese Arbeit bestehen sollte. Seither gehörte Calixto zur Finca und machte sich nützlich, wo er konnte, um den Lohn abzuarbeiten und die Schuld bei seinem Freund, dem Schriftsteller, zu begleichen.
    »Ich hol mir ’n Kaffee, soll ich dir auch einen bringen?«, fragte Calixto und ging in die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher