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Adieu, Sir Merivel

Adieu, Sir Merivel

Titel: Adieu, Sir Merivel
Autoren: Rose Tremain
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letzten Besuch in Shottesbrooke zu mir sagte. Der Mensch solle sich, meinte er, für seine kurze Zeit auf Erden unbedingt eine Art Lebensaufgabe setzen.«
    »Darin stimme ich mit ihm überein. Aber sieh deinen Vater nicht so anklagend an, Margaret. Du weißt, dass ich schon jetzt eine große Anzahl von Aufgaben habe, und –«
    »Er sprach vom Schreiben, Papa: vom Verfassen einer Abhandlung über ein Thema von Bedeutung. Er selbst hat sich an die Niederschrift eines sehr langen und bedeutenden Werks gemacht, dem er den Titel Traktat über die Armen und die Verbreitung des Verbrechens in England gab. Und er sagte mir, diese anstrengende Arbeit schenke ihm große Befriedigung, da er sich so aus seiner eigenen Welt entfernen könne …«
    »Ganz und gar entfernt er sich nicht«, entgegnete ich scharf. »Sir James ist, wie du weißt, Friedensrichter, und insofern hat er sehr häufig mit den verbrecherischen Armen zu tun.«
    »Wohl wahr. Aber er selbst ist keiner von ihnen. Er muss sein Leben nicht mit dem Verkauf von Austern oder mit kleinen Diebstählen fristen. Er wird nicht von einer Gemeinde in die nächste vertrieben, weil jeder die Kosten seines Unterhalts scheut …«
    »Richtig. Jedoch –«
    »Ich möchte dir gerne einen Vorschlag unterbreiten, Vater. Ich glaube, wenn du dich zu dem großen Wagnis des Schreibens entschließen könntest, würdest du weniger in Melancholie versinken und zufriedener mit der Welt sein.«
    Ich glotzte meine Tochter an. Es ist wahr, ich habe sie zu einer gewissen Unabhängigkeit des Geistes erzogen, aber wenn diese Unabhängigkeit, wie ein mit Widerhaken versehener Pfeil, auf mich gerichtet ist, dann fühle ich … nun, was fühle ich denn? Vermutlich fühle ich mich einfach töricht. Doch diese Torheit mischt sich mit Furcht. (Wurde nicht das Leben des armen König Lear durch den unabhängigen Geistseiner jüngsten und am meisten geliebten Tochter gänzlich zerstört?)
    Ich rückte näher ans Feuer und streckte die Hände aus, um sie zu wärmen. Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte Margaret – als eine Art kläglicher Verteidigung dessen, was sie für Müßiggang und das Fehlen jeglicher Freude hält – von meinen einstigen Versuchen erzählt, die Geschichte meines Lebens im Keil niederzuschreiben, doch im letzten Moment fiel mir ein, dass diese Lebensgeschichte manch eine Torheit und Bosheit in ihrer ganzen nackten Entsetzlichkeit offenbart, darunter auch die Bosheit gegenüber Margarets eigener Mutter. Und so sah ich davon ab.
    Ich wandte mich wieder dem Wein zu. Von diesem etwas erwärmt, sagte ich: »Es ist sehr freundlich von dir, dass du deine Gedanken meinem Wohlergehen widmest, und glaube nicht, es rührte mich nicht. Und du hast auch Recht, wir verbinden uns mit der Welt durch strebendes Bemühen, und dennoch …«
    »Und dennoch was?«
    »Ach, Margaret«, sagte ich, »du kanntest mich ja nicht, als ich jung war! Einst war ich nichts als strebendes Bemühen. Für jede Minute meines Daseins entwarf ich großartige und wunderbare Pläne. Ich versuchte sogar, ein Künstler zu werden – bis ein dünkelhafter Porträtmaler mir erklärte, ich hätte kein Talent. Der Tag hatte nicht genügend Stunden noch das Jahr genügend Tage für all meine Vorhaben. Doch nachdem du geboren warst und Bidnold mir wieder übereignet worden war, beschloss ich, meine Rastlosigkeit aufzugeben und mich hier in Norfolk niederzulassen, um mich um dich zu kümmern, meinem Beruf nachzugehen und nicht mehr an Glanz und Glorie, an Emporkommen und an sonstige weltliche Dinge zu denken.«
    »Papa«, sagte sie sanft, »ich sprach nicht von Glanz und Glorie.«
    Ich blieb noch lange, nachdem Margaret sich schlafen gelegt hatte, in meinem Sessel sitzen. »Merivel«, sagte ich zu mir, »hier Tag um Tag allein zu sitzen, während Margaret in Cornwall weilt, wird dich mit Sicherheit in dunkle Verzweiflung stürzen. Du musst aufstehen und dich umschauen, an einem neuen Ort.«
    Vielleicht war es Margarets Erwähnung der Worte »Glanz und Glorie«, die mich auf die Idee brachten, nach Frankreich, an den Hof Ludwig XIV., zu reisen. Ich wusste, wonach ich mich in diesen mir noch verbleibenden Jahren sehnte: Ich wollte durch Wunder in Erstaunen versetzt werden. In Versailles würden sie sich gewisslich finden lassen.

3
    Ich bin nun in London.
    Ich trage einen sehr vornehmen rostroten Rock und braune Kniebundhosen, um den Hals eine Kaskade prächtiger Spitzen und auf dem Kopf einen sehr flotten Hut, der seine
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