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Beweislast

Beweislast

Titel: Beweislast
Autoren: Gmeiner-Verlag
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    Es war höchste Zeit, diesem Rotzbuben eine zu verpassen. So einer wie der hatte doch allenfalls mal in den Semesterferien einen flüchtigen Blick in die Werkstätten und Produktionsbetriebe geworfen. Was wusste dieses geschniegelte Bürschchen im Nadelstreifenanzug schon von der Arbeitswelt? Gerhard Ketschmar, der seinen kräftigen Oberkörper in ein dunkelblaues Jackett gezwängt hatte, kochte innerlich. Über 30 Jahre lang hatte er gearbeitet, ohne Fehlzeiten, ohne Krankheitstage, ohne jemals dem Staat zur Last gefallen zu sein. Und jetzt musste er sich von diesem Schnö­sel, der sein Sohn hätte sein können, kaltschnäuzig sagen lassen, dass man ihn leider nicht einstellen könne. »Sie sind überqualifiziert«, stellte der Kerl fest und lehnte sich genüsslich in seinem wuchtigen, ledernen Chefsessel zurück. Auf der blitzblanken Schreibtischplatte aus Buchenholz ließ nichts, aber auch gar nichts auf irgendeine produktive Arbeit schließen, die dieser überhebliche Großschwätzer heute schon getan haben könnte. Ketschmar spürte plötzlich, wie ungemütlich der gepolsterte Stuhl war, auf dem er sitzen musste. Wie ein Schulbub. Wie ein Bittsteller. Allein schon dieses Büro vom Ausmaß einer ganzen Wohnung, wie sie neuerdings einem Hartz IV-Empfänger nicht mal zugestanden wurde, war eine einzige Provokation. Alles vom Feinsten. Eine Wand komplett aus Glas mit Blick hinüber zu den bewaldeten Hängen der Schwäbischen Alb, die jetzt im November längst ihren sommerlichen Schimmer verloren hatte. Auf der gegenüberliegenden Seite sündhaft teure Gemälde, vermutlich Originale, dachte er, während sich auf seiner Stirn dünne Schweißperlen bildeten. »Wenn ich Sie einstellen würde«, hörte er die Stimme dieses eiskalten Milchbubis, »dann wären Sie so teuer wie zwei junge Kräfte.« Er spielte mit einem Füllfederhalter, dem einzigen Utensil, das sich neben dem Telefon auf dem Schreibtisch fand.
    Ketschmar holte tief Luft und sah sein Gegenüber mit versteinertem Gesichtsausdruck an. Die Falten auf der Stirn waren tief eingegraben. Eigentlich hatte er etwas sagen wollen – doch was halfen hier Argumente? Was würde es helfen, würde er hinausschreien, was er von so viel Arroganz hielt? Dass Erfahrung heutzutage offenbar nichts mehr zählte, Erfahrung, Wissen und Können. Dass nur noch billig produziert werden musste, billig und schnell. Was wusste dieser Kerl da schon von dem Qualitätsbegriff ›Made in West-Germany‹? Vergessen, vorbei. Abgewirtschaftet. Diese Werte zählten nicht mehr. Der schnelle Euro musste es sein. Dass sich damit das Qualitätsniveau längst im freien Fall befand, wollte diese Generation nicht wahrhaben. Sie würde es aber zur Kenntnis nehmen müssen. Früher oder später. Auf bittere Weise, dachte Ketschmar und wünschte sich, diesen Niedergang noch miterleben zu dürfen, um die Schadenfreude genießen zu können. Mehr würde ihm nicht bleiben.
    Er spürte ohnmächtige Wut in sich aufsteigen – Wut darüber, dass es ein System gab, das solche Typen nach oben gespült hatte und ihnen auch noch alle Rechte und politische Unterstützung in die Hand gab. Ohnmacht auch darü­ber, dass er solchen Arrogantlingen hilflos ausgeliefert war, dazu noch mit staatlicher Billigung.
    Er erhob sich wortlos. Seine Körpergröße und sein Auftreten waren durchaus geeignet, einem Gesprächspartner Respekt einzuflößen. Er wusste um diese Wirkung, blieb deshalb vor dem Schreibtisch stehen und sah seinem Feind für einen Moment in die Augen, als wolle er ihn mit Blicken töten. Dann drehte er sich wortlos um, ging über den dicken Teppich zur Tür und kämpfte mit sich, ob er noch etwas sagen sollte. Ketschmar entschied, diesen Arrogantling nicht in seiner triumphierenden Gnadenlosigkeit zurückzulassen: »Soll ich Ihnen mal was sagen?«, presste er hervor und es klang gefährlich. »Typen wie Sie kotzen mich an. Typen wie Ihnen wünsche ich von ganzem Herzen, dass Sie mit Ihrer menschenverachtenden Arroganz kräftig auf die Schnauze fallen.« Das hatte gesessen. Der Knabe hinterm Schreibtisch war sprachlos. Mit allem hatte er offenbar gerechnet, nur nicht mit einer solchen frechen Attacke. Nie zuvor hatte es jemand gewagt, ihn derart respektlos anzusprechen. Er wirkte höchst irritiert, sein im Sonnenstudio gebräuntes Gesicht verlor an Farbe. Ketschmar ergriff die Gelegenheit, um gleich noch eine Bemerkung nachzuschieben: »Sie sollten aufpassen, dass Ihnen nicht eines Tages Hören und
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