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Beweislast

Beweislast

Titel: Beweislast
Autoren: Gmeiner-Verlag
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diese hart erkämpften Werte leichtfertig von diesen Bürschchen in den Chefetagen über Bord geworfen wurden.

3
     
    Tausend Gedanken fuhren in seinem Kopf Achterbahn. Ketschmar hatte Göppingen verlassen, ohne sich dessen bewusst geworden zu sein. Er hatte die Schnauze voll. Es war alles unsinnig, eine nach unten gerichtete Spirale. Es war aus, einfach vorbei. Abgestellt. Kaltgestellt. Der Golf rollte in das Neubaugebiet von Donzdorf, einem beschaulichen Städtchen, eingebettet in die ebenso beschauliche Landschaft zwischen den Dreikaiserbergen Hohenstaufen, Rechberg und Stuifen einerseits und den steil aufragenden Hängen der Schwäbischen Alb andererseits. Als er und seine Frau dort vor 20 Jahren ein schmuckes Einfamilienhaus gebaut hatten, damals, als Tochter Chrissi ausgezogen war, um in Tübingen zu studieren, da hatten sie keinen Gedanken daran verschwendet, dass sie einmal vor dem Nichts stehen würden. Die Bauwirtschaft hatte geboomt, Straßen wurden gebaut, auch der neue Albaufstieg der Autobahn am Aichelberg war gerade angestanden.
    Seine Stimmung entsprach dem Wetter, das eine dicke Nebelschicht um die Hänge der nahen Schwäbischen Alb gelegt hatte. Er fuhr nicht in die Garage, sondern stellte den Golf am Straßenrand ab. Sein Blick traf das Wohnmobil, das unter dem mit Efeu umrankten Carport stand. Wie oft noch würde er mit Monika in die Berge oder ans Meer fahren können? Im Januar würde das Ersparte schmelzen. Und zwar schnell. Was waren da die knapp hunderttausend Euro, die sie zusammenkratzen konnten? Bausparvertrag, ein paar dümpelnde Aktien von Telekom und Daimler, einige Sparkassenbriefe und ein uraltes Sparbuch. Alles war längst der staatlichen Kontrolle unterworfen. Mit List und Tricks, so hämmerte es jetzt in seinem Kopf, hatte die Regierung es geschafft, den Bürger zum gläsernen Sparer zu machen. Nie hatte Ketschmar es begriffen, dass das mühsam Ersparte, schon mal versteuerte Einkommen, immer und immer wieder versteuert werden musste, alljährlich, wenn die Zinseinnahmen die kontinuierlich gesenkte Freigrenze überstiegen.
    Monika spürte sofort, was los war. Sie drückte ihm in der Diele einen Kuss auf die Wange und lächelte ihn aufmunternd an. Doch er hängte lustlos seine Jacke an die Garderobe, zog die Krawatte vom Hals und ging ins Esszimmer, das seine Frau geschmackvoll herbstlich dekoriert hatte.
    »Null Chance«, sagte er und blickte aus dem Fenster. Die November-Stimmung zog ihn noch tiefer in die Depression.
    »Wir werdens schaffen«, versuchte Monika ihn zu trösten. Doch es klang wenig überzeugend. Sie legte ihre Arme um seinen Nacken. »Auch andere haben damit zu kämpfen.«
    Er nickte und umarmte sie. »Das sagt sich so leicht«, meinte er mit gedämpfter Stimme, »ich befürchte, wir werden vieles aufgeben müssen.«
    »Wir schaffen das«, wiederholte sie jetzt eine Spur überzeugender. »Notfalls geh ich jobben.«
    Ketschmar blickte seiner Frau ungläubig in die Augen. »Das kommt überhaupt nicht in Frage.« Ihn überkam der Gedanke an diese Billigjobs, mit denen finanziell in Not geratene Frauen ausgenutzt wurden. Supermärkte, geöffnet bis 20 Uhr. Samstagsarbeit bis zum Abend. Junge Chefs, die Sklaventreiber waren. Solche, die von über 40-Jährigen sowieso nichts hielten. Die auf dauernde Fluktuation setzten. Einstellen, ausnützen – rauswerfen. Heuern und feuern, wie es die Gewerkschaften einmal formuliert hatten. Nein, das wollte er seiner Frau nicht zumuten. Nicht ihr.
    Warum, zum Teufel, nahm es eigentlich dieses Volk hin, dass alle Errungenschaften des Sozialstaates aufgegeben wurden? Monika spürte, wie seine Gedanken abschweiften. »Was denkst du jetzt?«
    »Ich überleg mir, warum es in diesem Land so weit kommen musste.« Er schaute einer Amsel zu, die auf einem der kahlen Äste herumhüpfte. »Sie haben alles aufgegeben, was Deutschland einmal wirtschaftlich so stark gemacht hat. Denk doch mal an die Unterhaltungsindustrie. Schlagartig alles weg – an Japan verloren. Hat wohl Ende der Sechziger angefangen. Anstatt innovativ zu sein und zu forschen, hat die zweite Generation der Unternehmer die schnelle Mark gemacht und verkauft.« Er machte eine Pause. »Oder denk an die Optik, die Fotoindustrie. Ab nach Japan. Ein Ausverkauf der Technologie. Was soll man da noch erwarten?«
    Monika, die er über alles liebte, wandte sich ihm zu. Sie hatte unendliches Verständnis für ihn – und vor allem Geduld, wenn er, wie in den vergangenen zehn Monaten so
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