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Beweislast

Beweislast

Titel: Beweislast
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Doktorarbeit für einen Mathematiker sein konnte, mussten die Zahlen jedenfalls so hin- und her jongliert worden sein, dass insgesamt, ›saisonbereinigt‹ natürlich, ein positiver Trend erkennbar wurde.
    Ketschmar ging an der Reihe der Türen entlang, bis er am Namensschild ›Friedbert Grauer‹ angelangt war. Er klopfte, wartete aber gar nicht auf eine Reaktion, sondern öffnete.
    Als er das Büro des Sachbearbeiters, einem Mann mittleren Alters, betrat, überwältigten ihn zum zweiten Mal an diesem Tag Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein. Im Arbeitsleben war er es, der die Entscheidungen getroffen hatte – oft genug auch schwerwiegende. Als Bauingenieur hatte er für Projekte verantwortlich gezeichnet, die mindestens drei, vier Generationen überdauern mussten. Kläranlagen, Brücken, Umgehungsstraßen. Sein Wort galt. Seine Erfahrung zählte. Zusammen mit seinen engsten Mitarbeitern waren sie ein eingeschworenes Team gewesen. Hatten ohne zu murren Überstunden gemacht, auch am Samstag zusammengesessen, um neue Berechnungen anzustellen, wenn es hatte sein müssen. Sie waren die Zupacker gewesen und hatten keine Sekunde an den Gedanken verschwendet, einmal vor dem Nichts zu stehen. Zwar waren viele Baufirmen, auch große, in diesen Zeiten pleite gegangen. Doch dass es auch sie erwischen würde, war ihnen völlig abwegig erschienen. Diejüngeren Kollegen, die 30-und 35-Jährigen, hatten wieder einen Job gefunden, im Raum München und am Bodensee. Einige andere, die ohnehin aus dem Norden stammten, waren inzwischen in alle Winde verstreut. Nur er schrieb sich noch immer die Finger mit Bewerbungen wund. Er konnte nicht so ohne weiteres alle Zelte abbrechen und in eine andere Ecke dieser Republik ziehen. Flexibilität predigte sich so leicht in politischen Sonntagsreden – doch die Herren, die dies vollmundig priesen, konnten es aus einer gesicherten Position heraus tun. Was wussten die schon vom wahren Leben …
    Und dieser Sachbearbeiter, vor dem er jetzt saß, in einem viel zu warmen Büro, das mit all den Aktenregalen den Charme eines Buchhalterkontors verbreitete, dieser Sachbearbeiter hatte sicher auch keine Ahnung, wie es draußen in den Betrieben und auf den Baustellen zuging. Bei ihm war er nichts weiter als eine Nummer, ein Vorgang, eine Zahl in der Arbeitslosenstatistik. Fehlte nur noch, dass man ihm anbot, einen Gabelstaplerkurs zu absolvieren. Zur Weiterbildung, als Qualifizierung – in Wirklichkeit natürlich, um ihn für ein paar Wochen aus der Statistik herausnehmen zu können und irgendwo zu parken.
    Friedbert Grauer, sicher in diesen Amtsstuben in Ehren ergraut, bot ihm einen Platz an der abgerundeten Seite des Schreibtisches an. Dort stapelten sich Akten, von denen jede einzelne vermutlich das Schicksal eines Arbeitslosen enthielt.
    »Sie haben mir am Telefon gesagt, dass nichts geklappt hat«, kam Grauer gleich auf den Punkt und lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück.
    »Gelinde gesagt, Scheiße«, entgegnete Ketschmar mit unterdrücktem Zorn, »das macht doch alles gar keinen Sinn. Gerade eben wieder – drüben bei ›Xandom-Bau‹, null Chance. Sie wissen genau so gut wie ich, dass ich keine Chance hab.«
    Grauer, der seinen wohl genährten Bauch gegen die Schreibtischplatte presste und sich über seinen Wollpullover strich, holte tief Luft und nickte langsam. »Sie sind einfach zu alt.«
    Jetzt wars endgültig raus. Amtlich sozusagen. Behördlich festgestellt. Ketschmar zögerte für einen Moment, doch dann spürte er, dass das Maß voll, die Schmerzgrenze überschritten war. »Jetzt haben Sie es endlich gesagt. Danke, herzlichen Dank.« Seine Stimme verriet Zorn. »Zu alt, prima. Zu alt – natürlich«, es brach förmlich aus ihm heraus. »Sie sind genau wie ich mit Ihrem Latein am Ende. Und was Sie mir im letzten Vierteljahr empfohlen haben, war nichts weiter als Augenwischerei, nur Aktionismus. Und jetzt werden Sie mir gleich empfehlen, mich fortzubilden.« Ketschmar wandte den Blick von ihm ab und sah zu den Aktenregalen hinüber. »Soll ich einen Computerkurs belegen? Oder das Gabelstaplerfahren lernen? Oder was haben Sie noch auf Lager? Vielleicht könnte ich umschulen – ist ja mit 54 überhaupt kein Problem. Oder soll ich einen Ein-Euro-Job annehmen – oder eine Ich-AG gründen?« Ihn widerte alles an. Sein Blutdruck schoss in die Höhe. Er wollte arbeiten, richtig, vernünftig arbeiten, sein Wissen anbringen und mithelfen, dieses Land vor dem völligen Absturz zu
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