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Beweislast

Beweislast

Titel: Beweislast
Autoren: Gmeiner-Verlag
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bewahren.
    Grauer ließ zwei Sekunden verstreichen, ehe er sachlich entgegnete: »Wir tun, was wir können – aber der Arbeitsmarkt …«
    »Der Arbeitsmarkt!«, unterbrach ihn Ketschmar abrupt, »der Arbeitsmarkt gibt nichts her, das weiß doch jeder Idiot. Entschuldigen Sie, aber um mir das sagen zu lassen, brauch ich nicht jedes Mal hierher zu kommen.«
    »Die neue Bundesregierung ist bemüht, wieder ein investitionsfreundliches Klima zu schaffen«, versuchte Grauer einzulenken. Es schien so, als spule er ein für solche Fälle erlerntes Notfallprogramm ab.
    »Ach, gehn Sie mir doch weg!«, entfuhr es dem arbeitslosen Bauingenieur, der jetzt seine Krawatte lockerte, »Bundesregierung! Vergessen Sie doch die Politiker. Die haben uns doch alles eingebrockt. Alles, was in Berlin angezettelt wird, dient doch nur den Unternehmen – mit der Begründung, dann würden Arbeitsplätze geschaffen. Und was geschieht?« Ketschmar blickte sein Gegenüber an. »Es wird investiert, ja, natürlich – in moderne Fabrikationsanlagen und die entstehen meist im Ausland. Mit der Folge, dass immer noch mehr Arbeitsplätze wegfallen. Herr Grauer, in welcher Welt leben Sie denn?« Beinahe hätte er ihm gesagt, dass seine Welt wohl nur aus Akten und Statistiken bestand, vor allem aber aus einem sicheren Arbeitsplatz, an dem er sich seinen Hintern platt drücken konnte. Sesselfurzer nannte man solche Kerle, wenn an den Stammtischen von ihnen gesprochen wurde. Ketschmar versuchte, ruhig zu bleiben. Der Mann tat schließlich auch nur seine Pflicht. Die Wurzel des Übels lag woanders.
    »Wenn ich ganz ehrlich bin«, begann Grauer wieder mit sanfter Stimme und nestelte verlegen am Knoten seiner dezent schwarz-rot-karierten Krawatte herum, »Menschen in unserem Alter«, er ließ ein Lächeln über sein rundes Gesicht huschen, »sind einfach nicht mehr zu vermitteln.« Ketschmar war ob dieser plötzlichen Ehrlichkeit für einen Moment sprachlos. Er schluckte und verschränkte die Arme. »Na, endlich«, stellte er fast ein bisschen erleichtert fest, »wir brauchen uns doch nichts vorzumachen. Nur …«, er kniff die Augen gefährlich zusammen, »eines unterscheidet uns beide: Ich krieg keinen Job mehr – und Sie haben einen sicheren.«
    Grauer ging nicht darauf ein. »Sie sind noch sieben Wochen lang für ›Alg 1‹ bezugsberechtigt.«
    Alg 1, ja, dachte Ketschmar, an nichts anderes dachte er seit zehn Monaten. Arbeitslosengeld eins, auch wieder so eine Wortneuschöpfung. Ein Jahr lang würde er es bekommen, 60 Prozent seines letzten Nettoeinkommens. Das war alles, was ihm die sogenannte Arbeitslosenversicherung für über 30 Beitragsjahre bot. Dann würde er das Gleiche bekommen wie die ewigen Nichtstuer und Tagediebe. 345 Euro standen ihm zu, monatlich. Aber nur theoretisch. Denn so lange er noch Erspartes hatte, ein viel zu großes Haus, wie ganze Heerscharen von Bürokraten bald feststellen würden, sein Wohnmobil und einige Annehmlichkeiten, die er und seine Frau durch eisernes Sparen angeschafft hatten, so lange bekam er gar nichts. Null. Ach, hätten sie doch nur nicht gespart, sondern ihr Geld verprasst, mit Reisen und teuren Autos, dann würden sie jetzt, im Alter, nicht mit ansehen müssen, wie alles den Bach hinunterging. Ketschmar schossen tausend Gedanken durch den Kopf. In einer einzigen Sekunde. Wieder überkam ihn der Wunsch, so einen Kerl am Kragen packen zu wollen.
    »Sie müssen natürlich weiterhin dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen«, hörte er plötzlich die Stimme seines Beraters. »Sollten Sie zu Weihnachten verreisen wollen, müsste dies von uns genehmigt werden.«
    Wieder eine Demütigung, eine Kränkung. Sie würden ihm also wider besseres Wissen weitere Adressen schicken, bei denen er sich bewerben musste. Eine schwachsinnige Tretmühle, ein Irrenhaus. Nein, er wollte nicht mehr. Er wollte nicht noch einmal abgespeist werden. Ketschmar spürte das Blut im Kopf pochen. Nein, jetzt war Schluss. Wenn, dann unternahm er etwas auf eigene Faust. Mit 54 hatte er es nicht mehr nötig, erniedrigt zu werden. Er sprang auf und wurde laut. »Lassen Sie sich eines sagen, Herr Grauer, ich mach dieses Kasperltheater nicht mehr mit. So nicht.«
    Der Berater war vom Verhalten seines Besuchers sichtlich irritiert. »Sie sollten das nicht überbewerten«, sagte er und griff zu einem Kugelschreiber, den er sogleich mit den Fingern zu drehen begann, »es gibt manchmal Zufälle, die dem einen oder anderen doch wieder zu einem Job
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