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Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Titel: Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
Autoren: Jutta Voigt
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Venedig – das Fest
    Jetzt bin ich alt, denkt Sylvie, ab heute kann ich es nicht mehr vergessen. Sie hat keinem von dem Fest erzählt, das sie nachher feiern werden, sie hat auch Konrad verpflichtet, niemandem etwas zu sagen, Wörter schaffen Wirklichkeit. Konni, warum haben wir so früh geheiratet, und warum sind wir so lange zusammen geblieben. Jetzt bin ich alt, spricht sie vor sich hin, alt in Venedig. Der Palazzo Contarini ist schon lange alt, die Seufzerbrücke und San Marco existieren ewig schon als wertvolle, alte Schätze der Weltkultur. Sylvie ist kein wertvoller, alter Schatz der Weltkultur, sie ist erst seit heute alt, seit dieser Tag, seit dieses Fest gekommen ist. Seit dieses Datum von ihr das Geständnis einfordert, alt zu sein; ein Spritz bitte, mit Aperol! Venedig sollte es sein, wo sie ihr Fest feiern, unbedingt Venedig, weil es alt ist und schön. Venedig wird versinken, untergehen, rettungslos, die Zeit, die der Stadt bleibt, ist überschaubar, Schönheit am Rande des Todes, sagt der Philosoph.
    Der junge Kellner scherzt mit zwei jungen Frauen, man kann das Meer riechen, das Handy klingelt. Konrad fragt, was er für das Frühstück morgen einkaufen soll, ob Sylvia was Bestimmtes wolle, falls sie heute Abend zu viel trinken würden. Konni liebt Supermärkte, besonders die im Ausland, da fühlt er sichnicht fremd, und doch gibt es fremde Sachen, andere Kekse, anderes Bier, andere Frauen an der Kasse. Anschließend geht er in die Galleria dell’Accademia, Tizians und Tiepolos angucken. Er sucht immer wieder dieselben fünf oder sechs Bilder auf, schon nach dem ersten Frühstück in Venedig ging er los, zur Begrüßung. Ich hab mich bei meinen Freunden sehen lassen, sagte er, alle noch da. Und wie immer, kurz vorm Rausgehn, die riesige Leinwand mit der Jungfrau Maria, wie sie als kleines Mädchen die Stufen zum Tempel emporsteigt. Sie ist immer noch auf derselben Stufe, vermeldete er. Sylvie und Konrad machen nicht alles gemeinsam, sie schätzen Distanz und freuen sich, aufeinander warten zu können.
    Der Mann fürs Leben – geht das? Die Frau fürs Leben – kann das sein? Ein einziger Mensch für alles? Sylvie lacht vor sich hin. An der Litfasssäule vor ihrem Wohnhaus in Berlin klebte wochenlang das Porträt eines stadtbekannten Kulturträgers, ein Friseur, dessen große Visage Konrad nicht länger ertragen wollte. Am späten Abend steckte er sich zwei rohe Eier in die Manteltasche, ging runter und warf sie auf das Plakat. Drei Anläufe musste er nehmen, bis er das Gesicht des Friseurs an der richtigen Stelle traf, sechs Eier an drei Abenden gingen drauf dafür. Das erzählte er dem Eierverkäufer vom Markt. Dem ehemaligen Punk gefiel der Eierwurf auf das Coiffeurgesicht so gut, dass er Konrad vier Eier kostenlos überließ.
    Eine ältere Dame sitzt allein an einem Kanal in Venedig und lacht über ihren alten Mann, der Eier schmeißt. Ein einziger Mensch, nicht für alles, aber für manches. Konrad neigte immer schon zu Extremen. Als Sechsjähriger hatte er einen Nachbarsjungen,der ein bisschen zurückgeblieben und deshalb gut als Publikum zu gebrauchen war, an einen Stuhl gebunden und ihm Kaspertheater vorgespielt. So hatte er einen Zuschauer, der nicht wegrennen konnte und seiner Vorführung wohl oder übel folgen musste. Am liebsten hätte er das mit einem erwachsenen Publikum später genauso gemacht. Diktatoren fangen klein an.
    Sylvie sieht in das sonnige Orange des Cocktails. Das Café hat ein paar Stühle rausgestellt an diesem milden Herbsttag Ende Oktober. Venedig ist dörflich hier, die Sonne scheint mit letzter Kraft. Sylvie überkommt eine bodenlose Müdigkeit, eigentlich will sie nicht denken, nur fühlen, heilige Kontemplation. Auf der anderen Seite des Kanals führt eine Frau ihre Mutter aus, die am Stock geht und ein Kopftuch trägt. Unter ihrem Kamelhaarmantel ist ein roter Rock zu sehen. Die Alte guckt nach unten, sie muss, ihr Rücken ist so krumm, dass sie ihren Kopf nicht heben kann. Mutter und Tochter gehen stumm nebeneinander her, öfter bleibt die Alte stehen und zieht ihren Rock hoch, als fürchte sie, dass er von ihrem mageren Körper rutscht, wie würde sie denn dastehen ohne ihren roten Rock.
    Was hat die alte Frau noch vom Leben? Den Duft des Wassers, das Wehen des Windes, die vertraute Unebenheit des Straßenpflasters, die späte Sonne? Die Erinnerung hat sie, das Bewusstsein ihres ganzen Lebens, alles ist vergangen und nichts. Vielleicht war sie ja mal eine Femme
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