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Beweislast

Beweislast

Titel: Beweislast
Autoren: Gmeiner-Verlag
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verhelfen. Sie sollten nichts unversucht lassen.«
    Ketschmar stand vor dem Schreibtisch, als wolle er Gift und Galle spucken. »Und Sie, Herr Grauer, Sie sollten darauf achten, dass diese ganze verdammte Behörde hier nicht eines Tages der Teufel holt«, giftete er und geriet außer sich. »Pfui Teufel kann ich da nur sagen.« Und er wiederholte es schreiend: »Pfui Teufel.« Er war plötzlich wie von Sinnen. Frust, Zorn und eine unbändige Wut entluden sich, als sei ein Vulkan in ihm ausgebrochen. Er schrie immer wieder »Pfui Teufel, mit euch allen hier. Pfui Teufel.« Und er war bedrohlich nah an den kreidebleich gewordenen Beamten herangekommen.
    Eine Gesellschaft, die dem Jugendwahn verfallen war. Was zählte in dieser Ex- und Hoppgesellschaft schon noch die Erfahrung? Oder das, was die Väter aufgebaut hatten? Wofür sie gekämpft hatten? Früher, in den Fünfzigern. Es war für den Vater eine Schinderei gewesen. Schichtdienst, Akkord an der Besteckpresse der WMF. Bis es allmählich aufwärts ging, doch alles war förmlich vom Munde abgespart: Ein Motorrad, eine NSU wars, das kleine Stück Freiheit. Samstag wurde die Maschine poliert, der Motorblock mit Petroleum vom Öl gereinigt und anschließend der Inhalt des blechernen Putzbehälters in den kleinen Bach geschüttet, der am Haus vorbeilief und in dem das Benzin so herrlich bunt schillerte. Dieser Bach, der längst nicht mehr lustig plätschern durfte, weil sie ihn in den Untergrund verbannt haben, hat gleichzeitig die Küchenabwässer mitgenommen. Samstagnachmittags, wenn alle in ihren Holzzubern oder Zinnwannen gebadet hatten, verfärbte sich das Wasser grünlich und roch nach Fichtennadel. Und sonntags, nach dem Mittagessen, kamen die Reste der Nudelsuppen angeschwommen und wirbelten um die Wasserrädchen, die er aus Sperrholz gezimmert hatte.
    Es war, gerade mal zehn, 15 Jahre nach Kriegsende erst, ein Stück heile Welt. Hier, auf dem Lande, wo man der Politik in dieser jungen Demokratie noch traute, erschien die provisorische Hauptstadt Bonn so unendlich weit weg zu sein. Und Paris oder Washington würde man ohnehin nie im Leben besuchen können.
    Es war Ende der Fünfziger, als der Nachbar mit seinem Käfer nach Italien gefahren ist. Unglaublich, wie der das finanziell geschafft hat. Und der auf der anderen Seite, ein Schreinermeister, verbrachte den Urlaub mit seinem VW-Bus am Plansee. Wo immer das sein mochte, jedenfalls irgendwo weit weg, in Österreich. Dort, wo Vaters Landkarte gar nicht mehr hinreichte.
    Doch auch Ketschmars Eltern hatten durch eisernes Sparen an diesem Wirtschaftswunder teilhaben dürfen. Einfach war das nicht gewesen. Nur weil die Mutter stundenweise und so gut es ging, weil sie doch in der kleinen Mietswohnung auf ihn, den kleinen Gerhard, hatte aufpassen müssen, arbeiten gegangen war, hatte man sich mehr leisten können, als es ein WMF-Arbeiter geschafft hätte. In einem Hotel, dessen Glanzzeit irgendwann vorüber gewesen war, hatte sie vielen prominenten Gästen die Betten gemacht, während er auf den langen Fluren endlose Stunden gespielt hatte. Er war ein typisches Einzelkind. Er wuchs in die aufstrebende Republik hinein, ohne sich dessen bewusst zu sein. So war halt das Leben. Er kannte kein anderes.
    Irgendwann war er so groß geworden, dass er auf dem Motorrad nicht mehr zwischen Vaters Rücken und Mutters Schoß gezwängt mitfahren konnte. Anfang der Sechziger leisteten sich die Eltern ein Auto. Unglaublich. Ein Auto. Der ganze Stolz. Grasgrün und putzig klein – ein gebrauchtes Goggomobil, das fortan vor dem Haus stand, direkt am Bach.
    Möglich war dies nur geworden, weil die Mutter nun richtig arbeitete. Ein Scheißjob, wenn man es genau nimmt. In einer chemischen Fabrik, wo kein Mensch an Umweltschutz, an Luftfilter oder an die Gefahr irgendwelcher Substanzen dachte.
    Das war die Zeit, als Ketschmar die Mittelschule besuchte. So nannte man damals die Realschule.
    Er begann damals bewusst zu erleben, wie hart die Eltern für das Geld arbeiten mussten. Er las die Zeitung der Industriegewerkschaft Metall, obwohl er nicht viel davon verstand. Sein Vater war ein ehrenamtlicher Funktionär geworden, hatte sich für die Streiks stark gemacht, mit denen sich die Arbeiter Stück für Stück Rechte und höhere Löhne erkämpften. ›Samstags gehört der Papa uns‹, hatte ein Slogan gelautet, an den sich Ketschmar noch heute erinnerte. Es ging um den arbeitsfreien Samstag. Daran musste er jetzt denken, jetzt, wo all
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