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Beweislast

Beweislast

Titel: Beweislast
Autoren: Gmeiner-Verlag
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sich. Es gab keinen simplen Schlosser mehr, keinen Müllkutscher. Das waren jetzt Industriemechaniker oder Entsorger ›Abfall‹. Es musste ganze Stäbe von Verwaltungshengsten geben, die tagaus, tagein nur solchen Unsinn erfanden. Ihm kam ein Beispiel in den Sinn, von dem ihm jüngst ein befreundeter Polizeibeamter berichtet hatte: Hat man das ›fahrende Volk‹ in früheren Zeiten landläufig als ›Zigeuner‹ bezeichnet, so waren es später die ›Landfahrer‹. Doch auch dies ist im Amtsdeutsch inzwischen verpönt. Einfach genial, dass irgend jemandem die Bezeichnung ›mobile ethnische Minderheit‹ eingefallen ist. Solche Veränderungen brachten dieses Land enorm weiter.
    Ketschmar hatte den Golf auf dem Parkdeck des ›Marktkaufs‹ abgestellt, weil dort keine Gebühr verlangt wurde. Langsam musste er sich daran gewöhnen, auch kleine Beträge einzusparen. Schlagartig war ihm klar geworden, wie schnell ein Jahr vorbei sein würde. So lange nämlich konnte er mit dem Arbeitslosengeld rechnen – doch danach würde er unweigerlich aus allen sozialen Netzen fallen. Noch verdrängte er den Gedanken, welch verheerende Auswirkungen dies auf seinen Lebensstandard und den seiner Frau haben würde. Sie mussten ihr mühsam Erspartes anknabbern, denn alles, was sie ein Leben lang erworben hatten , überstieg bei weitem jene Grenze, bis zu der sie auf Unterstützung hoffen konnten. Da half es nichts, dass er lückenlos in die Arbeitslosenversicherung hineinbezahlt hatte. Wenn er daran dachte, wie viel Geld dies war, Monat für Monat überkam ihn jedes Mal die blanke Wut. Hätte man ihn diese Beträge in eine private Versicherung anlegen lassen, könnte er jetzt in Saus und Braus weiterleben. Doch die staatlich verordnete Zwangsversicherung, die eigentlich gar keine war, weil sie im jetzt eingetretenen Versicherungsfall nur ein Jahr lang zahlen wollte, war von großem Übel. Wie alles, was staatlich verordnet war. Dass eine Änderung notwendig war, schien den Politikern jetzt zu dämmern. Doch konnten sie dies doch nicht auf dem Rücken derer austragen, die ein Leben lang auf diese Versicherung vertraut und gebaut hatten. Was da jetzt abging, war ein astreiner Versicherungsbetrug, hatte Ketschmar schon viele Male im Freundeskreis geklagt.
    Er besah sich im Rückspiegel seines Golfs, strich sich die graumelierten schwarzen Haare aus dem Gesicht, das auf den Baustellen ein Leben lang Hitze und Kälte ertragen hatte, und rückte seine Krawatte zurecht. Dann nahm er den Aktenordner vom Rücksitz, stieg aus und verließ das Parkdeck. Draußen auf der Kreuzung schlug ihm die raue Novemberluft entgegen. Eigentlich war er immer um diese Jahreszeit mit Monika, seiner Frau, für zwei Wochen zum Sonnetanken auf die Kanaren geflogen. Alles gestrichen. Vorbei.
    Er überquerte die stark befahrene Kreuzung hinüber zur Poststraße und erreichte nach wenigen Schritten den leicht zurückversetzten, verschachtelten Komplex des Arbeitsamtes. Im Eingangsbereich hatte sich die übliche Schlange der erst vor kurzem arbeitslos gewordenen Menschen gebildet, die hier zunächst geduldig auf ihre Registrierung warteten, ehe sie einen Berater aufsuchen durften. Er hatte diese entwürdigende Prozedur bereits hinter sich. Er fühlte sich hier immer unwohl. Die Luft war schlecht, es roch meist nach Knoblauch und Schweiß. Außerdem war dieses Foyer gemessen an den unzähligen Büros viel zu dunkel und klein. Er mied es, in die Gesichter zu blicken. Meist waren es Jugendliche, die hier neue Hoffnung schöpften, oft auch Ausländer. Einige hatten sich ein Outfit zugelegt, das nach seiner Überzeugung nicht gerade dazu angetan war, einen schwäbischen Unternehmer zu einer Einstellung zu bewegen. Aber hier ging es ohnehin nur um die Befriedigung des allgegenwärtigen Bürokratismus. Ums Herausrechnen von Arbeitslosen aus der Statistik. Daran musste er denken, als er durch den langen Flur ging, auch hier vorbei an wartenden Menschen. Die Berater, Betreuer und ›Fall-Manager‹ oder wie sie sich alle nannten, mussten wahre Künstler im Beschönigen der Statistik sein. Politisch verordnet natürlich. Was waren da in der Vergangenheit für Fort- und Qualifizierungsangebote ersonnen worden – alle mit dem Ziel, die Betroffenen als Schüler in die Statistik aufnehmen zu können und nicht als Arbeitslose. Notfalls würde man sie zum Gabelstaplerfahrer ausbilden. Am Monatsende, wenn den Medien regelmäßig ein Zahlenwerk vorgelegt wurde, das eine halbe
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