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Beweislast

Beweislast

Titel: Beweislast
Autoren: Gmeiner-Verlag
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entlang – so weit, wie ihm die an Rollen unterm Vordach befestigte Laufleine Freiheit bot.
    Ketschmar griff sich Eierschachteln und Milchkanne und ging über den naturbelassenen Innenhof zur Eingangstür des verwitterten Wohnhauses hinüber. Sie stand wie üblich einen Spalt weit offen. »Hallo«, machte er sich bemerkbar, worauf auch schon die junge Bäuerin erschien, ihn mit einem breiten Lächeln begrüßte und über den schmalen, gefliesten Flur in ein kleines Esszimmer führte, in dem der alte Georg Pfeife rauchend an einem hölzernen Ecktisch saß und einen wohlriechenden Tabakduft verbreitete.
    »Opa hat schon gefragt, wo Sie bleiben«, sagte die burschikose Frau, die einen blauen Arbeitsanzug trug und sich Eierschachteln und Milchkanne reichen ließ.
    »Will’sch an Moscht?«, fragte der Alte, der einen Steinkrug vor sich stehen hatte. Es war jeden Freitag dieselbe Frage. Und Ketschmar verneinte sie auch diesmal nicht.
    Georg, den sie hier im Schwäbischen überall ›den Schorsch‹ nannten – oder noch besser den ›Stoiberg-Schorsch‹ – verstand es trefflich, die Kundschaft zu unterhalten, während die Schwiegertochter, die so jung auch nicht mehr war, frische Eier holte und Milch in die Kannen goss.
    Schorsch griff hinter sich in den Küchenschrank aus der Vorkriegszeit und stellte mit seinen dicken, aber wieselflinken Fingern ein Glas auf den Tisch. »Schenk dir ein«, forderte er seinen Gast auf. Ketschmar tat es und prostete dem alten Bauern zu.
    Sie tranken ihre Gläser zur Hälfte leer.
    »Was gibts bei dir Neues?«, fragte Schorsch ernst und wischte sich mit dem Handrücken den Mund und die Bartstoppeln drumherum trocken.
    »Beschissen«, erwiderte Ketschmar, »beschissen. Woche für Woche das gleiche Elend. Zu alt, zu teuer. Und überall diese arroganten Managertypen.« Eigentlich hatte er sich vorgenommen, nicht darüber zu reden. Aber Schorsch zeigte jedes Mal ehrliches Interesse.
    »Ich sag dir«, begann der alte Bauer und zog an seiner Pfeife, »so wie des jetzt läuft, kannsch des Land vergesse. Ich denk oft zurück an die Kriegszeit. Was waret mir froh an dem Wenige, was mir g’habt habet.« Er kniff die Augen zusammen, um die herum sich tausend Falten bildeten. »Dreckig isch es uns ganga, saudreckig. Aber alle hent z’amma g’halta. Alle. Und jetzt?«, Schorsch machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nur Lug und Trug – wo du hingucksch.«
    Ketschmar trank sein Glas vollends aus und schenkte sich nach. Sie waren schneller zu seinem Lieblingsthema gekommen, als er gedacht hatte.
    »Ich sag dir«, fuhr der Alte fort und stopfte mit dem rechten Zeigefinger Tabak in die Pfeife, »ich bin grad froh, dass ich schon so alt bin.« Dann griff er sein Gegenüber am Unterarm und beugte sich zu ihm: »Ich versteh gar net, dass ihr euch das alles gfalla lasst.«
    »Du hast heutzutage keinen wirklichen Rückhalt mehr. Ich war nie ein Freund der Gewerkschaften – habs in meiner Position nicht nötig gehabt. Aber selbst wenn ich Mitglied gewesen wäre – was tun die denn? Rückzieher machen sie, eingeschüchtert sind sie. Oder besser gesagt: Ihre Mitglieder sind eingeschüchtert. Wer wagt es denn heut noch, richtig aufzumucken?« Er nahm einen kräftigen Schluck.
    Schorsch nickte. »So isch es. Keiner traut sich mehr was. So weit hat euch die Politik hinbracht.« Er machte wieder eine abwertende Handbewegung. »Ach was. Vergiss doch alles. Wenn i bloß an den Deppen da drübn denk.« Der Bauer deutete in Richtung Eulengreuthof. Es war nicht zu vermeiden, dachte Ketschmar. Egal, worüber sie in den vergangenen Jahren geredet hatten, früher oder später hatte Schorsch die Überleitung ›zu dem Deppen‹ gefunden. Zu dem Streit, der immer wieder aufs Neue aufflammte – vor allem aber zu den seiner Ansicht nach absolut unfähigen Juristen, von denen in all den Jahren kein einziger überhaupt begriffen habe, worum es ging. Dass dieser ›Eulengreuthof-Depp‹ ihn, den Steinberghof-Schorsch, umbringen wollte. Und dafür gab es tausend Beweise, wie Schorsch beschwören konnte. Zerstochene Reifen am Traktor und durchschnittene Bremsschläuche, die keinesfalls Marder zerbissen hatten. Ketschmar kannte diese Geschichten und goss sich nochmal aus dem Steinkrug nach. Vielleicht hatte Schorsch ja gar nicht so Unrecht, dachte er. Vielleicht musste man sich wehren. Gegen die Politiker, die Wirtschaftsbosse – und die anderen Deppen. Und gegen all die verantwortungslosen Burschen.
     
    Verantwortung, hat
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