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Die Marseille-Connection

Die Marseille-Connection

Titel: Die Marseille-Connection
Autoren: Massimo Carlotto
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EINS
    51° 41' N 30° 06' O
    Die Wölfe strichen unter dem Riesenrad entlang und näherten sich gegen den Wind der Autoscooter-Anlage. Rasch und sicher liefen sie durch das hohe Gras, das jetzt im Frühherbst schon gelb wurde. Bald würde das Gelb in das ungesunde Rot der Baumstämme umschlagen oder in das geronnenem Blut gleiche Dunkelrot des Rostes, der die Metallteile des Rummelplatzes bedeckte. Erst der Schnee würde Mitleid mit dem verlassenen Park haben und ihn für einige lange Monate mit einer weißen Decke überziehen. Die Wölfe duckten sich zwischen die Scooter und beobachteten die Hirsche, die aus einem großen Becken tranken. Einst mochte das ein Brunnen voll sprudelnder Wasserspiele gewesen sein. Dann und wann hoben die Männchen ihre mit Geweihen gekrönten Köpfe und schnupperten nach Raubtieren, doch um ihre Nasen strich nur ein leichter Westwind, in dem die Gerüche der Geisterstadt Prypjat lasteten.
    Plötzlich erstarrten alle Tiere und spitzten die Ohren. Ein dumpfes Brummen näherte sich mit beträchtlicher Geschwindigkeit. Drei Geländewagen, voll besetzt mit bewaffneten Männern, bogen auf das Freigelände ein. Rufe, Gelächter,Schüsse. Zwei Hirsche gingen getroffen zu Boden, die anderen flohen, von den Kugeln verfolgt. Die Fahrzeuge hielten, und die Insassen sprangen heraus, die meisten in Tarnanzügen, bewaffnet mit Maschinengewehren, Pistolen im Gürtel. An ihren Jacken baumelten Geigerzähler. Wie Jäger sahen sie jedenfalls nicht aus, auch nicht diejenigen, die aus einem brandneuen, teuren Pick-up ausgestiegen waren, gekleidet in englische Maßanzüge, in den Armen teure Gewehre mit Intarsien und Zielfernrohr.
    Einer von denen in Tarnkleidung legte die Kalaschnikow auf den Boden, hakte sich den Geigerzähler ab und hielt ihn an einen der erlegten Hirsche. Angesichts der Zahl, die im Display erschien, schüttelte er bloß den Kopf. Als Letzter stieg ein besonders gut gekleideter junger Mann aus, wohl noch keine dreißig Jahre alt. An den Füßen hatte er handgemachte italienische Schuhe, der Kaschmirmantel passte farblich zum Schal. Er warf einen Blick in die Runde und sah sofort die Wölfe. Sie hatten sich keinen Millimeter gerührt und beobachteten neugierig die Männer, die jetzt den Hirschen das Fell abzogen. Katajew dachte, die Wölfe von Tschernobyl haben keine Angst mehr vor Menschen. Er hütete sich, die anderen auf sie aufmerksam zu machen. Er wartete ungeduldig auf das Ende der Jagdpartie, um sich den wahren Gründen für seinen Aufenthalt in Prypjat zu widmen.
    Einer der Fahrer, der Wodka aus dem Wagen holen sollte, bemerkte die Wölfe dann. Die Jäger griffen nach ihren Kalaschnikows, begierig, das Feuer zu eröffnen, aber Witali Saytsew, den alle Pachan nannten, hob die Hand.
    »Die Wölfe verdienen Respekt. Sie sind mutig«, sagte er feierlich, indem er einen Revolver aus der Jacke zog. »Und sie ähneln verdammt den Hunden von den Bullen.«
    Alle außer Katajew lachten ordinär und zustimmend und griffen nach ihren Pistolen. Sie bewegten sich auf die Wölfe zu, die immer noch regungslos dastanden, bis der Pachan zielte, den Abzug betätigte und um mindestens einen Meter danebenschoss. Erst jetzt setzten die Tiere sich in Bewegung und trotteten ohne Hast die Straße zum Ausgang des Rummelgeländes entlang.
    Die Verfolgung dauerte nicht lange. Die Wölfe trabten in die Straßen eines nahe gelegenen Viertels und bogen allesamt in den Eingang eines Schulgebäudes ein. »Ihre Höhle«, dachte Sosim Katajew. Seit der Evakuation der Bewohner nach dem Reaktorunfall hatte die Natur die Stadt zurückerobert, Zentimeter um Zentimeter. Zahlreiche Tiere bewohnten die verlassenen Häuser. Als er zum ersten Mal hier war, erzählte ihm sein Führer, einer der wenigen Menschen, die beschlossen hatten, nach Prypjat zurückzukehren, belustigt, er habe aus seinem Wohnzimmer erst einmal eine Bärenfamilie vertreiben müssen.
    Erregt öffneten die Jäger die Wodkaflaschen und ließen sie kreisen. Tiefe Züge, langsam über die Lippen geführte Handrücken. Katajew beobachtete sie nachdenklich und versuchte, den Widerwillen zu unterdrücken. Er konnte sich das nicht erlauben. Von einem der Fahrer ließ er sich heißen Tee einschenken und machte sich darauf gefasst, einer sinnlosen Schlächterei beizuwohnen. Der Pachan und seine Getreuen gingen als Erste hinein, gefolgt von den Männern in den Tarnanzügen.
    Durch die großen Fenster des Korridors, in dem früher brave Schüler und Lehrer
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