Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Adieu, Sir Merivel

Adieu, Sir Merivel

Titel: Adieu, Sir Merivel
Autoren: Rose Tremain
Vom Netzwerk:
1
    An diesem Tag, welcher der neunte Tag im November des Jahres 1683 ist, hat sich etwas äußerst Bemerkenswertes ereignet.
    Ich verzehrte gerade, wie gewohnt, mein Mittagsmahl (gekochtes Hühnchen mit Karotten und ein kleines Bier), als mein betagter Diener Will das Speisezimmer auf Bidnold Manor betrat. In seinen knotigen alten Händen hielt er ein in brüchiges Papier eingeschlagenes und mit einem verblichenen Bändchen verschnürtes Paket. Er legte diesen Gegenstand zu meiner Rechten nieder, wodurch eine Staubwolke aufwirbelte und auf meinen Teller sank.
    »Gib acht, Will«, sagte ich und merkte, wie ich die Luft anhielt und sie dann in einem derart gewaltigen Nieser wieder ausstieß, dass die Tischdecke mit winzigen Karottenstückchen verziert wurde. »Was ist das für ein Plunder?«
    »Ich weiß es nicht, Sir Robert«, sagte Will und versuchte den Staub zu verteilen, indem er mit seinen missgestalteten Fingern wedelte.
    »Das weißt du nicht? Aber wie ist er ins Haus gelangt?«
    »Kammerzofe, Sir.«
    »Du hast ihn von einer der Mägde bekommen?«
    »Unter eurer Matratze entdeckt.«
    Ich wischte mir den Mund und schnäuzte mich (mit einer sehr fadenscheinigen gestreiften Serviette, die mir einst der König geschenkt hatte) und legte die Hände auf das Päckchen, das mir wahrhaftig wie etwas erschien, das aus einem Pharaonengrab, tief unten in der trockenen Erde, entwendet worden war. Ich hätte Will wohl auch genauer nach dessen merkwürdiger Herkunft gefragt und warum es ausgerechnetan diesem Tag so plötzlich entdeckt wurde, doch er hatte sich schon umgewandt und auf den langsamen, hinkenden Rückzug von der Tafel zur Tür begeben, und ihn zurückzurufen hätte durchaus zu einer physischen Katastrophe führen können, die zu riskieren ich nicht das Herz hatte.
    Wieder allein, zog ich an dem Band und bemerkte darauf einige Flecken wie von Mäuse- oder Fliegenkot, und die Vorstellung, dass irgendeine Kreatur womöglich ihr gesamtes elendes Dasein unter meiner Matratze verbrachte, erheiterte mich für einen Moment.
    Dann war das Päckchen geöffnet, und vor mir lag etwas, das ich so lange vergessen hatte, dass es mir von allein nie und nimmer wieder in den Sinn gekommen wäre.
    Es war ein Buch. Vielmehr hatte es einst den unsterblichen Status eines Buchs angestrebt, diese Unsterblichkeit jedoch nie erlangt, es war stets nur eine Zusammenstellung von Seiten geblieben, beschrieben in meiner tintenfleckigen, geschwungenen Handschrift. Vor langer Zeit, im Jahre 1668, als ich endlich wieder nach Bidnold Manor zurückgekehrt war, hatte ich die Vernichtung des Buchs in Betracht gezogen, dann aber Will die Seiten gegeben – mit der Anweisung, sie einem Versteck seiner Wahl anzuvertrauen und dann möglichst zu vergessen, wo dieses Versteck sich befand.
    Die Seiten enthielten die Geschichte meines einstigen Lebens. Ich hatte diese Geschichte in einer Zeit großer Verwirrung, in den letzten Jahren meines vierten Jahrzehnts, niedergeschrieben, als zum ersten Mal der Glanz König Charles’ II. auf meine unbedeutenden Schultern fiel.
    Ich hatte gehofft, dass ich durch die Niederschrift besser verstehen würde, welche Rolle ich in meinem Beruf als Arzt in meinem Land und in der Welt spielen könnte. Doch obgleich ich damals glaubte, mich in all meinem fieberhaften Gekritzel einer Art Weisheit zu nähern, kann ich mich nicht erinnern, sie jemals erreicht zu haben. Ich wurde, wie ein hungriger Hund, von einem Ort zum nächsten getrieben. Eswar eine Zeit voller Glanz und Gloria und eine Zeit großer Kümmernisse. Und meine eigenen Worte jetzt zu lesen und jenes Leben nun wieder vor mir ausgebreitet zu sehen, versetzte mein Herz in einen nahezu unerträglichen Überschwang der Gefühle.
    Ich nehme das Buch und begebe mich in meine Bibliothek. Ich lege das Buch auf meinen Sekretär und widme mich dem kümmerlich brennenden Feuer, lege noch ein paar Holzscheite hinein und ermahne es, nicht zu vergessen, wozu es da ist – dazu nämlich, mich zu wärmen. Doch ich zittere immer noch. Ich überlege, ob ich erneut nach Will rufen soll, der in langer, ermüdender Übung das Talent erworben hat, Flammen zum Leben zu erwecken. Doch in diesen vorgerückten Zeiten der 1680er Jahre, nun, da ich mich meinem siebenundfünfzigsten Geburtstag nähere, widerstrebt es mir mehr und mehr, Will angesichts seines hohen Alters (von vierundsiebzig Jahren) und seiner vielen Gebrechen überhaupt noch mit irgendwelchen Aufgaben zu betrauen.
    In der Tat
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher