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Abschiedskuss

Abschiedskuss

Titel: Abschiedskuss
Autoren: Amanda Hellberg
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Peitschenhieb auf den Rücken.
    Die Person, die den Mord begehen würde, glitt von einem weißen Holzpferd. Das geschnitzte Tiergesicht des Karussells hatte hervorragend Deckung geboten. Die Frau war allein. Die Person, die den Mord begehen würde, schlich um die unbeleuchteten Autoscooter herum und verließ das Dunkel. Geschmeidige, rasche Füße. Eine Sekunde unter den bunten Glühbirnen, dann wieder zurück in die Unsichtbarkeit. Wie sie dort an der Kante stand, sah sie zerbrechlich aus. Älter, aber gleichzeitig auch jünger als ihre achtundvierzig Jahre. Jetzt, ganz nahe. Unglaublich, dass sie die Atemzüge in ihrem Nacken nicht hörte. Eine Duftwolke um ihren Kopf – Blumenduft.
    Und dann der Stich, schräg von hinten. Das Messer, das sich tief in den Körper bohrt, bis zum Griff, bis hinunter zu Birgittas Schambein. Die Klinge, die mit wahnsinniger Kraft nach oben gerissen wird, durch die Bluse, die Eingeweide, bis sie am Brustkorb hängen bleibt.
    Birgitta schluchzte auf, aber sie schrie nicht. Sie stand noch aufrecht, mit einer Hand krampfhaft das Geländer umklammernd, als die Klinge sich aus ihrem Körper löste und sie, fast zärtlich, eine Hand auf der Stirn spürte. Dann wurde ihr Kopf zurückgedrückt, und die Klinge schlitzte ihren Hals auf.
    You hurt the ones that I love best
    and cover up the truth with lies.
    One day you’ll be in the ditch,
    flies buzzin’ around your eyes,
    Blood on your saddle.
    You’ll never know the hurt I suffered
    nor the pain I rise above,
    And I’ll never know the same about you,
    your holiness or your kind of love,
    And it makes me feel so sorry.
    Bob Dylan, Idiot Wind

1. Kapitel
    Mein Leben in zwei Reisetaschen. Das könnte ein wehmütiger Gedanke sein, aber wenn ich das Gepäck neben mir betrachte, fühle ich mich nur leicht und frei, gewissermaßen gereinigt. Als hätte ich mir gerade selbst die Genehmigung erteilt, endlich das Leben zu leben, das mir eigentlich zusteht.
    Ich habe ihn sofort gesehen, als ich in die Empfangshalle stolperte. Ich wusste gleich, dass er es ist. Dunkle Haut, marineblauer Anzug, kurzgeschnittenes Haar und ein handgeschriebenes Schild mit meinem Namen in seinen nussbraunen Händen.
    Miss Maja Grå.
    Der Kringel über dem å ist etwas schief und ungelenk. Er könnte Chauffeur, Assistent oder sonst wer von der Polizei in Brighton sein, aber ich werde mir seinen Ausweis nicht zeigen lassen. Ich weiß, wer er ist. Was er ist. Gelassenheit umgibt den hochgewachsenen Körper wie ein Nimbus. Er ist jemand, mit dem man sprechen kann.
    Der britische Flugplatz wird von Menschen in Bewegung überschwemmt. Alle mit ihren eigenen Plänen auf ihren eigenen unsichtbaren Ameisenpfaden. Unterwegs mit Hilfe eines kollektiven, unausgesprochenen Regelsystems, ohne größere Kollisionen und offenbar ohne Frustration. Ich richte mich trotz des Gewichtes meiner Taschen auf und laufe auf den Mann mit dem Schild zu. Ich widerstehe dem Impuls, einen zweiten Blick auf eine Dame mit Seidenhalstuch und dazu passendem Gepäck zu werfen.
    Sie erinnert mich an meine Mutter. Oder an meine Erinnerung an meine Mutter. Sie ist es natürlich nicht. Es ist nie Mama, am allerwenigsten jetzt.
    In den letzten zehn Jahren habe ich immer nach meiner Mutter gesucht. Ein Viertel meiner Kindheit habe ich damit verbracht und meine gesamte Teenagerzeit. Anfangs noch gezielt. Ich war ja noch so klein. Eifrig. Optimistisch? Es war wie ein schreckliches Spiel, das ich mit mir selbst spielte. Ein bitteres Spiel, das nie damit enden konnte, dass wir glücklich bis ans Ende unserer Tage leben. Wie würde sie jetzt aussehen? Ob sie wohl eine neue Frisur hatte? Ob sie mich erkennen würde? Ob sie froh sein würde, wenn ich sie fand?
    Einmal ging ich stundenlang hinter einer viel älteren Frau her, die unmöglich meine verschwundene Mutter sein konnte (oder vielleicht doch?), durch ein Einkaufszentrum, zu einem Bus, in ein Dorf und den ganzen Weg zu ihrer Reihenhaussiedlung, und das nur, weil ich den Duft von Mamas Maiglöckchenparfüm durch die Trennwand einer Umkleidekabine wahrgenommen hatte. Anschließend übergab ich mich in eine Schneewehe und musste sieben Kilometer zu Fuß gehen, um nach Hause zu kommen. Niemand wollte wissen, wo ich gewesen war, und später unterließ ich solche Aktionen. Zumindest fasste ich diesen Entschluss.
    Papa erstarrte, war wie erfroren, innerlich und äußerlich. Er gab sich Mühe, er tat einige Jahre lang so, als lebe er immer noch, aber er war nicht mehr
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