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Abschiedskuss

Abschiedskuss

Titel: Abschiedskuss
Autoren: Amanda Hellberg
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Stattdessen hebe ich die Hand zu einem gemessenen Gruß. Reserviert, aber nicht feindselig. Der Spiegel bebt leicht. Die Person im Spiegel winkt zurück. Jetzt. Jetzt ist es Zeit zu gehen.
    In diesem Augenblick bemerke ich, dass einer der Hausmeister zwei Umschläge unter dem Türspalt durchgeschoben hat. Der eine ist in gedrängter Handschrift adressiert und mit einer Briefmarke versehen. Der andere muss persönlich abgegeben worden sein, da nur mein Name darauf steht. Ich stecke beide Briefe in die Manteltasche zu Inspektor Kings Visitenkarte und begebe mich im Dauerlauf hinunter zum Taxi und zu Ashley.
    Ich sitze bereits im Wagen, als Raymond angekeucht kommt.
    »Da war noch ein Brief«, sagt er atemlos. »Der hat mehrere Monate lang hier gelegen … Ich könnte fast schwören, dass er schon kam, bevor Sie eingezogen sind, aber das ist ja vollkommen unmöglich.«
    Ein billiger Umschlag ohne Futter, graues Papier. Auf dem Poststempel steht Brighton. Der Anblick der Kugelschreiberschrift jagt mir einen elektrischen Schlag durch das Nervensystem. Mein Name in ihrer Handschrift. Die Neigung der Buchstaben ist dieselbe, aber die Symmetrie hat sich verändert. Die Schrift ist gleichmäßiger und harmonischer. Fast elegant.
    Erst als ich im Zug sitze und Ash Tee kaufen gegangen ist, öffne ich den ersten Brief.
    Ich habe den mit der gedrängten Schrift gewählt. Das Papier ist dünn wie das eines Gesangbuchs und mit Buchstaben in derselben engen Schrift wie auf dem Umschlag bedeckt.
    »Liebe Maja,
    ich schreibe Ihnen als ein gebrochener Mann. Ich will versuchen, Ihnen eine Art Antwort auf die vielen Fragen zu geben, die sich Ihnen vermutlich stellen. Ich selbst stelle mir die quälende Frage nach meiner Verantwortung und danach, was ich hätte tun können, um diesen grauenvollen Lauf der Dinge zu verhindern. Wenn Birgitta noch bei uns wäre, weiß ich, was sie gesagt hätte: Dass sich diese Taten außerhalb meiner Kontrolle befanden, dass sie unvermeidlich waren und eingeschrieben in die Zeit.
    Hätte ich gewusst, dass das Zusammensein mit Birgitta in den letzten Jahren den endgültigen Zusammenbruch meiner Tochter herbeiführen würde, ihre Wahnsinnstaten, ihren Tod, den Tod meiner jungen Geliebten und nicht zuletzt Birgittas Tod, dann wäre ich nie eine Verbindung mit ihr eingegangen.
    Aber Ihre Mutter hatte eine seltsame Gabe. Sie gab mir das Gefühl, ein ganzes Leben lang unsichtbar neben mir hergewandert zu sein. Sie sagte manchmal, dass sie in einer anderen Zeit auf dem Scheiterhaufen gelandet wäre. Oft hatte ich den Eindruck, dass sie alles sehen konnte, das Innerste der Menschen, die Vergangenheit und die Zukunft. Sie besaß die Fähigkeit, mir meine geheimsten Wünsche zu erfüllen, ohne dass ich sie je ausgesprochen hätte. Das schweißte uns zusammen. Ich habe keine andere Erklärung.
    Birgitta war der traurigste und faszinierendste Mensch, den ich je gekannt habe, aber auch der energischste. Im Nachhinein betrachtet, könnte ich auch das Wort ›rücksichtslos‹ verwenden, aber ich glaube, dass ihr das nicht ganz gerecht wird. Besonders energisch war sie, wenn es um Sie und Ihr Wohlergehen ging. Sie wissen inzwischen vermutlich, dass Ihre Mutter mich auf die Arbeiten aufmerksam machte, die Sie eingereicht hatten. Sie übte während des Auswahlprozesses vor Semesterbeginn im Herbst einen gewissen Druck auf mich aus. Sie müssen wissen, dass ich Sie sonst nicht aufgenommen hätte, aber Sie sollen auch erfahren, dass mein Urteil jetzt ganz anders ausfällt. Sie besitzen eine seltsame Gabe, und ich spüre, dass Sie in Ihrem künstlerischen Genre die Möglichkeit haben, einmal zu den Besten zu gehören.
    Ich wünsche Ihnen alles Gute und hoffe inständig, dass Sie Arabellas Tat, die zerstörten Menschenleben und Ihre fürchterlichen Erlebnisse nicht allzu sehr belasten.
    Ich hoffe, dass Sie Ihr Leben voll und ganz ausschöpfen können – um Ihrer selbst willen und im Andenken an uns, die wir auf dem Weg gestrauchelt sind.
    Mit traurigen Grüßen,
    Leopold Chesterfield«
    Ich lasse die Hand mit dem Brief in den Schoß sinken und lehne den Kopf zurück. Meine Gedanken wirbeln durcheinander.
    Ein fast körperlicher Schmerz befällt mich, und ich kneife die Augen fest zu. Dann öffne ich sie, blinzele heftig und öffne Mamas Brief.
    »Meine liebe, kleine Maja. All meine Dummheiten habe ich Deinetwegen begangen. Von Deinem jetzigen Standpunkt mag es Dir vielleicht nicht so vorkommen, aber ich versichere Dir: Du
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