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Abschiedskuss

Abschiedskuss

Titel: Abschiedskuss
Autoren: Amanda Hellberg
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kultivieren. Aber kaum habe ich diesen Satz in Gedanken formuliert, muss ich sofort über meine abschwächende Wortwahl lächeln. Ich erhielt den Spielraum? Nein. Ich war dazu gezwungen.
    Ich schaue mich erstaunt im Café um. Es wirkt plötzlich irgendwie weitläufiger. Luftiger, mit behaglicherer Beleuchtung und größeren Abständen zwischen den Gegenständen. Die Welt um mich herum scheint sich mit einem Mal auszudehnen. Die Wände rücken auseinander, der Raum wird breiter und höher. Erstaunt sehe ich zu, wie sich die Fenster in die Länge ziehen. Jetzt sind sie bald so hoch wie Kirchenfenster. Wie viel Licht sie hereinlassen! Ich betrachte Ashley, der mir gegenübersitzt. Er scheint nichts zu bemerken, aber ich habe den Eindruck, als würde er auf der anderen Seite eines Fußballplatzes sitzen.
    »Nikita hat mich gerettet«, sage ich.
    Ash nickt traurig, und der Abstand zwischen uns verringert sich im Nu wieder.
    »Obwohl sie bereits … du weißt schon. Ich kann es mir nicht erklären, aber so war es«, sage ich leise.
    Ash streicht über meine Hand. Sie liegt auf dem Tisch neben meiner Teetasse. Wir sitzen eine Weile so da und schweigen, unsere Gedanken schweifen ab.
    Eine profane Unruhe ergreift allmählich von mir Besitz. Etwas so Banales wie die Frage, wo ich eigentlich die nächsten Tage bleiben soll, treibt mich um. Peinlicherweise bin ich nie auf den Gedanken gekommen, dass Mill Creek Manor über die Weihnachtsferien schließen könnte. Aber so ist es nun einmal. Mit einem zunehmenden Gefühl der Hilflosigkeit versuche ich, meine Finanzen im Kopf zu überschlagen. Was kostet es, in einer Jugendherberge unterzukommen? Um wie viele Nächte handelt es sich überhaupt? Aber ich habe die Hellhörigkeit und Großzügigkeit meines Freundes unterschätzt.
    »Du, was die Weihnachtsferien betrifft«, beginnt Ash, und ein leichtes Lächeln erhellt sein Gesicht. Ich drehe meine Hand um, und unsere Handflächen berühren sich.
    »Ja?«
    »Ich frage mich schon die ganze Zeit, wo du eigentlich unterkommst. Weißt du das überhaupt schon?«
    Ich schüttele den Kopf.
    »Willst du mich nicht einfach begleiten? Vorausgesetzt, du bist der Meinung, dass du es im Shakespeare-County aushalten wirst. Es gibt dort mindestens fünf Tea-Rooms pro Pub, und es wimmelt von amerikanischen Touristen und Sehenswürdigkeiten wie beispielsweise dem Bett, in dem William Shakespeare nicht geschlafen hat.«
    Tränen der Rührung steigen mir in die Augen.
    »Und dann ist da natürlich noch meine Mama, eine herrlich exzentrische Person mit Porzellanpanthern auf dem Klo. Du würdest mir wirklich einen großen Gefallen tun, wenn du mich bei dem großen Pralinengelage unterstützen könntest.«
    »Aber mache ich ihr nicht … ich meine, mache ich ihr nicht eine Menge Umstände?«
    »Hör schon auf«, meint Ash. »Darin besteht ja gerade dein Charme, dass du so wahnsinnig viele Umstände machst. Menschen, die nicht anstrengend sind, sind das Langweiligste, was es gibt.«
    »In diesem Fall: Vielen Dank. Gerne.«

39. Kapitel
    Ich ziehe meine Baskenmütze über die Ohren und schultere meinen Rucksack. Die Wunde an der Schulter schmerzt kaum noch. Das Taxi, das Ashley und mich zum Bahnhof bringen soll, steht bereits vor der Pförtnerloge und stößt große Abgaswolken in die eisige Luft. Wahrscheinlich presst Raymond schon missbilligend die Lippen zusammen und wartet nur darauf, uns endlich Frohe Weihnachten wünschen und hinterherwinken zu können.
    Bevor ich Zimmer 45 verlasse, bleibe ich vor Nikitas schmalem, leerem Bett stehen. Ich will die Decke nicht mit meinen Tränen beflecken. So beuge ich mich rasch vor, küsse das Kissen und flüstere:
    »Ciao, Nikita. Schlaf gut.«
    Dann bereite ich mich darauf vor, das Zimmer für immer zu verlassen. Aus einer Eingebung heraus werfe ich einen letzten Blick in unser kleines Bad. Vielleicht habe ich ja etwas vergessen, oder ein Wasserhahn ist nicht richtig zugedreht. Ich schaue in die Badewanne, auf das Bord über dem Waschbecken und schließlich in den Spiegel. Das Mädchen im Spiegel begegnet meinem Blick. Sie ist etwas älter und müder, aber aufrechter als das letzte Mal, als ich einen bewussten Blick auf sie geworfen habe. Sie ist unterwegs, das sehe ich. Erst einmal nach Stratford, aber dann auch noch weiter. Weiter weg. Und tiefer hinein.
    Ich sehe, dass ihre graublaue Regenbogenhaut an die ihrer Mutter erinnert, und ich schaue nicht weg oder schlage beunruhigt die Augen nieder, als ich es bemerke.
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