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Abschiedskuss

Abschiedskuss

Titel: Abschiedskuss
Autoren: Amanda Hellberg
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    Eine zerzauste Möwe, die kleiner ist als die anderen und ein verletztes Bein zu haben scheint, wirbelt von unterhalb des Piers in einer Bö nach oben, mir entgegen, und verfängt sich fast in meinem Haar. Sie prallt mit einem leichten Stoß gegen meinen Kopf, und ich denke noch, wie erstaunlich leicht sie ist, bevor ich Angst bekomme. Die kleine Möwe hat noch mehr Angst als ich. Vor Schreck gerate ich ins Schwanken und fuchtele instinktiv in Kopfhöhe mit den Händen, um meine Augen zu schützen. Der Vogel flattert mit einem kläglichen Kreischen auf und über die Geisterbahn hinweg. Ich habe eben erst das Gleichgewicht wiedergefunden, da spüre ich, dass jemand hinter mir steht.
    Einige Strähnen haben sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst, peitschen mir in die Augen und rauben mir die Sicht. Ich versuche verzweifelt, mir das Haar aus dem Gesicht zu schieben. Gleichzeitig meine ich, am Rand meines Gesichtsfelds eine große Gestalt zu sehen, mit einer Art Schleier oder langem herabhängenden Haar. Ein Schatten, eher eine intensive Kraft als feste Materie, lautlos und fast unnatürlich reglos. Aber als ich mich hastig umdrehe, sehe ich, dass hinter mir nichts ist, absolut nichts.
    Der Wind, das Salzwasser und das Putzpersonal haben die Blutflecken schon lange beseitigt. Trotzdem bilde ich mir ein, um meine Schuhe herum Konturen wahrzunehmen, die tief in die grauen Holzplanken eingedrungen sind. Wenn ich recht habe, muss es sich um eine fürchterliche Menge Blut gehandelt haben. Jenseits des Geländers wälzen sich graue, schlammige Wogen ans Land. Ich vergrabe das Kinn im Kragen. War das deine letzte Aussicht, Birgitta?
    Man kann das Salz in der Luft schmecken. Ich versuche, meine Atmung zu steuern und mein Herz, das wahnsinnig schnell schlägt. Ich zwinge mich dazu, ein paar Sekunden mit einer Hand auf dem Geländer stehen zu bleiben, obwohl ich das nicht will. Links oben am Himmel leuchten immer noch ein paar rosa Streifen, die Reste eines spektakulären Sonnenuntergangs. Die lavendelblaue Dämmerung hat gerade den Kampf gegen das Dunkelblau des Abends verloren. Ich schließe eine Weile die Augen, schlucke ein paarmal, und es gelingt mir, das Entsetzen zu verdrängen, indem ich denke, dass dieser Augenblick hier der schönste des Tages ist.
    Die meisten Besucher meiden die feuchte Kälte und lärmen in der Spielhalle oder in einer der Gaststätten. Fish and Chips, Hamburger, Bier. Drüben beim Helter Skelter kann ich mit Mühe ein eng umschlungenes Paar ausmachen, im Übrigen bin ich mit den Seevögeln allein.
    Ein Plastikschild der Polizei von Brighton, auf dem die Öffentlichkeit aufgefordert wird, mit sachdienlichen Hinweisen zur Aufklärung des hier begangenen Verbrechens beizutragen, ist notdürftig mit Stahldraht am Geländer befestigt. Wie unscheinbar es aussieht. Wie armselig.
    Es dauert weniger als eine Minute, um vom Tatort dorthin zu gelangen, wo Mama zuletzt gesehen wurde. Die Hercules Bar liegt am äußersten Ende des Piers. Der letzte Vorposten. Alles sieht ungefähr so aus, wie Inspektor King es beschrieben hat. Ich fasse nach seiner Visitenkarte in der Tasche. Dort liegt auch der Reklamestadtplan aus dem Hotel. Für alle Fälle.
    »Es ist leicht, sich hier in der Stadt zurechtzufinden«, hat King gesagt, und das stimmt.
    »Der Strand im Süden, der Bahnhof im Norden. Feine Leute im Westen, die Dummen im Osten.«
    »Und wo wohnen Sie, Inspektor King?«, habe ich mich erdreistet zu fragen, als wir uns nach dem Lunch vor meinem Hotel verabschiedeten.
    »Sagen Sie doch Steve, Stephen King. Meine Güte! Können Sie sich vorstellen, wie sehr man mich in der Schule gehänselt hat? Wir wohnen im Osten. Da ist mehr los. Und näher an Frankreich ist es auch.«
    Im ersten Moment ist es schön, in die Wärme der Hercules Bar zu kommen, aber schon bald bereue ich es. Die Stimmung ist zwar nicht direkt bedrohlich, aber man spürt deutlich, dass Zugereiste nicht gerade willkommen sind. Ein paar stämmige Frauen am Tisch neben der Tür mustern mich feindselig von oben bis unten. Von der kleinen Bühne brüllt ein Mann in Nylonhemd seine eigene, einzigartige Interpretation eines Robbie-Williams-Songs.
    »Ein kleines Bier bitte.«
    Das Personal scheint in meinem Alter oder jünger zu sein. Studenten? Trotz des schmerzhaften Lärmpegels bewegen sie sich wie Schlafwandler, so gelangweilt, dass es fast schon lethargisch wirkt. Ehe ich noch mein Bier bekomme, hat sich bereits jemand lautlos neben mich an die Bar
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