Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zitadelle des Autarchen

Die Zitadelle des Autarchen

Titel: Die Zitadelle des Autarchen
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
 
Der tote Soldat
     
    Ich hatte noch keinen Krieg erlebt und nicht einmal viel aus erster Hand darüber gehört, aber ich war jung und wußte einiges von Gewalt, also glaubte ich, der Krieg sei für mich nicht mehr als eine neue Erfahrung, wie andere Ereignisse – meine hohe Stellung in Thrax, zum Beispiel, oder meine Flucht aus dem Haus Absolut – neue Erfahrungen gewesen sind.
    Der Krieg ist keine neue Erfahrung, sondern eine neue Welt. Ihre Bewohner unterscheiden sich mehr von den Menschen als Famulimus und ihre Freunde. Ihre Gesetze sind neu, und neu ist sogar ihre Geographie, handelt es sich doch um eine Geographie, in der unwichtige Hügel und Mulden die Bedeutung von Städten erlangen. Gleichsam wie unsere vertraute Urth solche Ungetüme wie Erebus, Abaia und Arioch birgt, so hausen in der Welt des Krieges Monstren namens Schlachten, deren Zellen aus Individuen bestehen, die aber eigenes Leben und eigene Intelligenz haben und zu denen man durch eine immer dichter werdende Schar unheilvoller Vorboten gelangt.
    Eines Nachts erwachte ich lange vor dem Morgengrauen. Alles schien still, aber ich befürchtete, irgendein arglistiger Feind habe sich mir genähert und mich aus meiner Ruhe gerissen. Ich erhob mich und blickte mich um. Die Berge waren in Dunkelheit getaucht. Ich stand in einem Nest aus hohem Gras, das ich mir ausgetreten hatte. Grillen zirpten.
    Etwas tief im Norden stach mir ins Auge: ein Blitz, wie ich glaubte, von violettem Licht, unmittelbar am Horizont. Ich starrte auf die Stelle, von der er gekommen war. Als ich schon glaubte, mich lediglich getäuscht zu haben, vielleicht einer Nachwirkung der Droge, die mir im Haus des Hetmans verabreicht worden war, aufgesessen zu sein, schlug ein klein wenig links von der vermeintlichen Stelle eine magentarote Lohe empor. Eine Wache oder länger blieb ich dort stehen, hin und wieder mit diesen mysteriösen Lichterscheinungen belohnt. Nachdem ich mich schließlich davon überzeugt hatte, daß sie weit entfernt waren und nicht näher kamen und sich auch an der Häufigkeit nichts änderte (sie wiederholten sich durchschnittlich alle fünfhundert Herzschläge), legte ich mich wieder hin. Und weil ich inzwischen hellwach war, wurde ich gewahr, daß unter mir der Boden leicht bebte.
    Es hatte aufgehört, als ich am Morgen wiedererwachte. Aufmerksam beobachtete ich beim Weitergehen den Horizont, bemerkte aber nichts Außergewöhnliches.
    Schon seit zwei Tagen hatte ich nichts mehr gegessen, und obgleich ich keinen Hunger mehr empfand, spürte ich, daß ich schwächer denn je war. Zweimal an diesem Tag stieß ich auf verfallene Häuschen und suchte darin nach Nahrung. Falls etwas zurückgeblieben war, war es längst genommen worden; nicht einmal mehr Ratten waren da. Das zweite Häuschen hatte einen Brunnen, in den allerdings irgendein Kadaver geworfen worden war; außerdem hatte ich sowieso keine Möglichkeit, an das stinkende Wasser zu gelangen. Ich zog weiter mit dem Wunsch nach etwas Trinkbarem und einem besseren Stock als den vielen morschen Ästen, derer ich mich nacheinander bedient hatte. Daß es viel einfacher ist, mit einem Stock zu gehen, hatte ich erfahren, als ich in den Bergen Terminus Est als Wanderstab benutzt hatte.
    Gegen Mittag gelangte ich zu einem Pfad, dem ich folgte, und hörte bald Hufgeklapper. Ich verbarg mich an einer Stelle, von wo aus ich den Weg überblicken konnte; im nächsten Moment erklomm ein Reiter den nächsten Hügel und galoppierte an mir vorüber. Ich bekam ihn nur flüchtig zu sehen, erkannte aber, daß er eine ähnliche Rüstung wie die Hauptleute von Abdiesus’ Dimarchi trug, wenngleich sein wehender Umhang nicht rot, sondern grün und sein Helm offenbar mit einem Visier wie dem Schirm einer Mütze versehen war. Wer immer er auch sein mochte, er war vorzüglich beritten: Sein Renner hatte Schaum vor dem Maul und triefende Flanken, dennoch flog er dahin, als hätte das Leuchtzeichen eben erst aufgeblitzt.
    Da ich auf dem Weg einem Reiter begegnet war, erwartete ich noch weitere. Es kamen keine mehr. Eine lange Zeit wanderte ich, von Vogelstimmen und Wildspuren begleitet, durch die Stille. Dann stieß ich (zu meiner unaussprechlichen Freude) auf einen jungen Wasserlauf, durch den eine Furt führte. Ich ging ein Dutzend Schritt flußaufwärts, wo tieferes, klareres Wasser durch das Bett aus weißem Kies floß. Elritzen huschten vor meinen Stiefeln davon – stets ein Zeichen für reines Wasser –, und es war noch kalt von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher