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Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe
Autoren: Michael Tietz
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Prolog

    Er löschte seine Taschenlampe, einfach so. Nur eine winzige Bewegung seines Daumens und alles veränderte sich. Er und sein Gegenüber verschwanden – zwei Kinder, die es plötzlich nicht mehr gab, ebenso wenig wie Felswände, Staub und jede Erinnerung an die Welt da draußen. Da oben, in der wirklichen Welt, da tickten die Uhren weiter, hier aber blieben sie stehen, und er selbst hatte sie angehalten. Er wagte kaum noch zu atmen, seine Finger zitterten, als er nach dem tastete, was nun ihm gehören sollte. Konnte man dieses Glück fassen? Ja, wusste er, ja. Glück existierte, wenn manchmal auch an Orten, an denen ein normales Kind nie und nimmer danach gesucht hätte. Aber gerade da schien sich sein Glück wohlzufühlen, hier, tief unter alten Mauern vergraben, zwischen Steinen versteckt und scheu. Und neben sich das Unglück des Anderen. Oder gab es gar kein Glück und kein Unglück? Handelte es sich vielleicht um denselben Zustand und es kam einzig darauf an, aus welcher Richtung man sich ihm näherte? Dies hielt er für möglich, allerdings nicht für wichtig genug, diesen Gedanken bis zu einem Ende zu verfolgen.
    Er beugte sich nach vorn und konnte die Angst, das Unglück des Anderen riechen. Roch er selbst ebenso, wenn …? Ein Kopfschütteln, die Erinnerung zerkrümelte und verlor sich im Dunkeln. Er hasste jeden Gedanken daran. Jeden.
    » Wir sind ganz allein, nur du und ich«, flüsterte er. »Spürst du mich?« Der Kopf unter seinen Händen nickte. »Kannst du mich riechen?« Es dauerte einen Augenblick, aber dann nickte der Gefragte erneut. »Hast du Angst?« Es war unnötig, auf die Antwort zu warten. Natürlich hatte er Angst. Der Gefangene wollte etwas sagen, aber das dem Kind über den Kopf gestülpte und teilweise in den Mund gestopfte T-Shirt verhinderte dies, zum Glück. Nein, sie mussten sich ganz still verhalten, da oben durfte niemand etwas hören, kein einziges Wort. Sollten die anderen doch trinken und essen, er selbst verspürte keinen Durst, jedenfalls keinen Durst, welchen Flüssigkeit zu löschen vermochte.
    Seine Finger berührten eine Stirn und der Gefangene presste die Augen so fest zusammen wie er nur konnte. Die Hand wanderte über die Augenhöhlen hinweg, über Nase und Mund, hin zum Hals. Mit den Augen konnte er nichts sehen, seine Finger sahen für ihn. Er spürte angespannte Sehnen und einen winzigen Kehlkopf unter dünner Haut. Niemand sah sie jetzt, nicht einmal sie selbst. Niemand!
    Macht. Fünf winzige Buchstaben nur, allerdings in der richtigen Reihenfolge angeordnet ein Wort, das ganze Welten verändern konnte. Er registrierte die eigene Erregung, staunte über dieses Gefühl. Sein Atem ging schnell und schien genauso zu zittern wie seine Hände. Fühlte sich so Macht an?
    Er wusste genau, was jetzt in diesem Augenblick im Kopf seines Opfers vorgehen musste – Wissen, welches den Wert dieses Momentes ins Unfassbare steigerte. Es tat so gut, einmal auf der anderen Seite stehen zu dürfen, mächtig zu sein.
    Seine Finger wanderten über nackte Arme, über Bauch und Brust des Kindes bis zu dessen Hals. Nur er und der Gefangene, sonst nichts. Kein Erwachsener, der ihm die Macht aus den Händen riss, er konnte tun und lassen was er wollte, ein Herr über Leben und Tod.
    Schauer jagten über den Rücken des Jungen, seine Hand legte sich um einen schlanken, von jedem Schutz befreiten Hals. Er wartete, wollte diesen Augenblick genießen, wollte ihn auskosten, so lange und so intensiv dies nur ging. Der Gefangene zitterte, schluckte, wand sich und konnte doch nicht entfliehen. Er gehörte ihm, nur ihm.
    Mit dieser Gewissheit im Kopf und dem Gefühl, genau das Richtige zu tun, drückte er zu.

DIE TAGE DAVOR

1 Die Entdeckung

    Alex liebte diese beiden Finger aus Stein. Er liebte sie wirklich und er liebte es, den einen dieser Finger zu erklimmen und dabei Dunkelheit und Enge hinter sich zu lassen. Alles, was im normalen Leben wie Klötze am Bein des Jungen hing, blieb beim Bezwingen des Fingers zwischen Mauerresten und Tannen hängen und zurück – am Ziel wartete so etwas wie Freiheit, zumindest für Alex’ Augen. Auf der Spitze des Turmes existierte weder Zeit noch gab es Grenzen.
    Alex’ Augen wanderten über das gewundene Band des zu Füßen der Burg ausgelegten Flusses, über Feuchtwiesen und kleine Baumgruppen. Wie in zu einer Schale geformten Händen öffnete sich das Land und außerhalb dieser Schale existierte nur das, was die Träume des Jungen Wirklichkeit
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