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69

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Titel: 69
Autoren: Ryu Murakami
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es in die Tischplatte. Der Typ fing an, am ganzen Körper zu zittern. Es fiel mir ein, dass ich mir die 13 000 Yen zurückholen könnte, die ich der alten Frau und dem Waschbären gegeben hatte, plus 4 000 für ein Hotelzimmer, aber - warum klappte auch gar nichts - ich musste plötzlich pinkeln. »Heh! Wo ist die Toilette?« , rief ich. Das ist wohl so ziemlich der lächerlichste Satz für jemanden, der gerade mit einem Messer wedelt. Ich war kaum im Badezimmer, als ich hörte, wie der Mann zur Tür hinausrannte. Beim Pinkeln ging mir auf, dass das, was ich getan hatte, als bewaffneter Raubüberfall gedeutet werden könnte, und ich nahm an, dass er jeden Moment mit den Bullen zurückkommen würde. Ich musste fliehen. Gerade in solchen Momenten dauert das Pinkeln immer eine Ewigkeit. Als ich fertig war, verschwand ich in Sekundenschnelle aus dem Apartment dieses Schweins. Ich kann gar nicht sagen, wie lächerlich ich mir vorkam, als ich durch die Straßen von Hakata rannte, nachdem ich wegen eines Rennens von zu Hause weggelaufen war. Ich rannte schneller, als ich jemals in irgendeiner Sportstunde gerannt war, und es dämmerte schon, als ich schließlich anhielt. Ich stolperte in einen ziemlich großen Park, trank Wasser aus einem Brunnen, legte mich dann auf eine Bank und wartete auf den Sonnenaufgang. Ich dachte, dass ich mich besser fühlen würde, wenn mir ein bisschen wärmer geworden wäre. Während ich wartete, schlief ich für einen Moment ein und wachte von der zarten Berührung des Sonnenlichts auf meiner Wange und einem lauten Knall in meinen Ohren auf. Durch den weißen Morgennebel, der über dem Park hing, konnte ich eine kleine Bühne sehen, auf der ein paar Männer mit langen Haaren irgendwelche Instrumente stimmten. Es war kein Schlagzeug auf der Bühne, und die Gitarren waren akustische mit Mikrophonen dran, also nahm ich an, dass es Folkies waren. Damals gab es sogar in Kyushu mehr und mehr Folksänger, dank der Zeitungsberichte über die Sessions auf dem Platz vor dem Shinjuku-Bahnhof in Tokio. Die Leute kamen nach und nach zusammen. Es war Folk, ich hatte Recht. Sie fingen an zu spielen, als der Nebel sich aufgelöst hatte. Ein Typ mit schulterlangen Haaren, einem Bart und einer dreckigen Jacke sang Sachen von verschiedenen öden Protestsängern. Auf einem Transparent über der Bühne stand »Präsentiert von der Ortsgruppe Fukuoka des Komitees ›Frieden für Vietnam‹«. Ich hasste Folk, und ich mochte das Komitee »Frieden für Vietnam« nicht. Wenn man in einer Stadt mit einer amerikanischen Militärbasis wohnt, merkt man, wie reich und mächtig Amerika ist. Ein Oberschüler, der jeden Tag das Dröhnen der Phantom-Jets hört, muss kein Genie sein, um zu merken, dass Folksongs-Singen genauso viel bringt wie Furzen. Die Leute klatschten im Takt, und ich schaute aus einiger Entfernung zu und brummte: »Ihr Idioten.« Zwischen den Songs hielten sie Ansprachen, der übliche Mist: »USA raus aus Vietnam« und so weiter.
    In meinem ersten Jahr an der Mittelschule war mal ein Mädchen namens Chiyoko Masuda gewesen, die später Marine-Nutte wurde. Sie war im Kalligraphie-Club und gewann eine Menge Preise. Eine von der ernsten Sorte. In meinem zweiten Jahr schrieb sie mir einen Liebesbrief, in dem stand, dass sie mit mir korrespondieren wolle. Sie sagte, sie möge Hesse und es habe sie glücklich gemacht, dass ich in einer Stunde gesagt hätte, dass ich ebenfalls Hesse mochte, und sie fände es schön, wenn wir uns gegenseitig Briefe über Hesse oder so schreiben könnten. Ich war in ein anderes Mädchen verknallt und habe ihr nie geantwortet. Eines Tages, während meines ersten Jahres an der Oberschule, sah ich, wie Chiyoko Masuda, die Haare rot gefärbt, das Gesicht mit Make-up zugekleistert, Arm in Arm mit einem schwarzen Seemann spazieren ging. Unsere Blicke trafen sich, aber sie ignorierte mich. In unserer Nachbarschaft war ein Haus mit Marine-Nutten, und ich hatte einige Male durch die Fenster gespäht, wenn sie Sex mit den amerikanischen Soldaten hatten. Ich fragte mich, ob Chiyoko auch die Schwänze von schwarzen Typen lutschte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie man von Hesse und Kalligraphie zu schwarzen Schwänzen kommen konnte.
    Während ich dem frommen Scheiß zuhörte, den das Friedenskomitee von sich gab, wurde ich wieder depressiv und dachte daran zu gehen, aber ich war müde und wusste außerdem nicht, wohin ich gehen sollte. Als ich dort so saß und vor mich hin brummte, wie blöde
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