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69

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Titel: 69
Autoren: Ryu Murakami
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diese Folkies doch seien, sah ich ein Mädchen neben mir stehen, das Verdünnerdämpfe aus einer Plastiktüte inhalierte. »Du magst keinen Folk?«, sagte das Verdünner-Mädchen . »Nein, mag ich nicht«, sagte ich. »Mein Name ist Ai-chan«, teilte sie mir mit. Sie hatte ein etwas dümmliches Gesicht. Wir redeten über Iron Butterfly und die Dynamites und Procul Harum. Ai-chans Augen waren müde. Sie nahm meine Hand und zog mich auf die Füße, und wir gingen los. Ai-chan war Kosmetikerin und hatte davon geträumt, nach Amerika zu gehen und Grateful Dead zu sehen, aber als die Gehaltsschecks kamen, merkte sie, dass sie nie genug für die Reise zusammensparen würde, und so wurde sie stattdessen ein Straßenkind. Wir tranken eine Eiscreme-Soda, gingen in ein Rock-Café und hörten die Doors, hingen in einem Kaufhaus rum und aßen eine Schale Nudeln und Tempura, um die Zeit bis zum Abend totzuschlagen. Dann gingen wir zu einer Disco, wo man uns wegschickte, weil man Straßenkinder nicht reinließ. Ai-chan lud mich zu sich nach Hause ein und sagte, sie würde es dort mit mir machen. Mir schien ein Rockmusik liebendes, Verdünner schnüffelndes, leicht zurückgebliebenes Hühnchen die ideale Person zu sein, um ihr meine Jungfräulichkeit zu opfern. Wenn ich zum Beispiel einer der Damen aus dem English Drama Club an die Wäsche ginge, würde sie gleich übers Heiraten reden, und der Waschbär wiederum war ein richtiger Runterzieher gewesen. Das Haus, in dem Ai-chan wohnte, lag auf einem Hügel am Rand der Stadt. Es war wirklich ein Haus, was an sich schon recht verdächtig war, und zu allem Überfluss kam noch ihre Mutter an die Tür. Mit Tränen in den Augen fing sie an, was von Oberschule zu schreien und Abgehen und eine Existenz aufbauen, Papas Firma und die Nachbarn und Selbstmord und so weiter. Ai-chan, benebelt von den Verdünnerdämpfen, ignorierte sie und versuchte, mich ins Haus zu ziehen, aber ich wich zurück, als ein riesiger Mann im Flur erschien und mich anstarrte. Der Mann riss Ai-chan die Plastiktüte aus der Hand und gab ihr eine Ohrfeige. Dann drehte er sich zu mir um und schrie: »Mach, dass du verschwindest!« Ich folgte seinem Rat. Als ich ging, nahm Ai-chan meine Hand und sagte: »Tut mir Leid.«
    Ich hatte damit genug von Hakata, und so ging ich nach Nagoshima und nahm dann ein Schiff auf die Insel Anami-Oshima. Ich war immer noch Jungfrau. Als ich nach ein paar Wochen wieder in die Schule kam, war das Langstreckenrennen wegen Regens abgesagt worden, was die Sache noch schlimmer machte.

    Jetzt, mit siebzehn, war ich immer noch so rein wie frisch gefallener Schnee. Ich kannte einen Siebzehnjährigen, der irgendwie links und rechts herumbumste. Sein Name war Kiyoshi Fukushima, und er war der Bassist von Coelacanth, der Band, in der ich Schlagzeug spielte. Wir nannten ihn Fuku-chan. Obwohl er ein Teenager war, hatte er das Gesicht eines Mannes im mittleren Alter. Er war außerdem ziemlich kräftig.
    Wir beide waren in unserem ersten Jahr eine Zeit lang im Rugbyteam. Der Rugby-Clubraum war gleich neben dem für die Leichtathleten. Einer aus dem zweiten Jahr, ein Sprinter, war dafür berühmt, dass er den Bezirksrekord über hundert Meter hielt, und einmal stießen ich und Fuku-chan vor dem Clubraum mit ihm zusammen. Weil Fuku-chan aussah, als wäre er irgendwie um die zwanzig, dachte der Läufer, er sei aus einer der oberen Klassen, verneigte sich tief und rief eine herzliche Begrüßung. Fuku-chan fand das lustig, also spielte er die Rolle weiter und fragte: »Und, wie läuft es, Kleiner? Wirst du schneller?« »Jawohl, Sir«, sagte der Läufer, steif in seiner Hab-Acht-Stellung, »ich schaffe jetzt 10,4 Sekunden auf hundert Meter.« »Oh, wirklich? Arbeite weiter dran. Du wirst noch besser werden.« Wir haben beide ziemlich darüber gelacht, aber als der Läufer hinterher rausfand, dass man ihn hochgenommen hatte, schlugen er und die anderen Oberklässler aus dem Leichtathletik- und Rugbyteam Fuku-chan die Scheiße aus dem Schädel.
    Guter alter Fuku-chan. Wenn ich ihn mal fragte, wie er es schaffte, an seine Miezen ranzukommen, sagte er immer den gleichen Satz: Steck deine Ziele nicht zu hoch .

    Um unser Festival in Gang zu kriegen, wollte ich als Allererstes einen Film drehen, und kaum war Adama zu uns gestoßen, da überraschte er uns auch schon damit, dass er an eine Acht-Millimeter-Bell&Howell kommen konnte. Er war rumgelaufen und hatte die Jüngeren gefragt, ob einer eine Filmkamera habe,
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