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69

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Titel: 69
Autoren: Ryu Murakami
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ARTHUR RIMBAUD
    1969 war das Jahr, in dem die Tokioter Universität wegen der Studentenunruhen schließen musste. Die Beatles hatten das White Album, Yellow Submarine und Abbey Road herausgebracht, die Rolling Stones machten ihre größte Single, Honky Tonk Womarn, und Leute, die man Hippies nannte, trugen ihre Haare lang und redeten von Liebe und Frieden. In Paris trat de Gaulle zurück. Der Krieg in Vietnam ging weiter. Oberschulmädchen benutzten Binden, keine Tampons.
    So ein Jahr war 1969, als ich mein drittes und letztes Jahr auf der Oberschule begann. Ich ging auf eine weiterführende Schule in einer kleinen Stadt mit einer amerikanischen Militärbasis im westlichen Teil von Kyushu. Weil ich in einem naturwissenschaftlichen Kurs war, befanden sich nur sieben Mädchen in meiner Klasse. Sieben waren immer noch besser als gar keine, so wie das in meinem zweiten Jahr gewesen war, aber die Mädchen, die Naturwissenschaften belegen, sind meistens Pleiten, und ich muss leider sagen, dass exakt fünf von sieben genau das waren. Von den übrigen zwei hatte eine ein Gesicht wie eine Babypuppe und war an nichts anderem interessiert als an Matheformeln und englischen Vokabellisten. Babypuppes Vater hatte ein Sägewerk, und wir lästerten, dass man ein Stemmeisen brauchte, um in sie reinzukommen.
    Die andere hatte den gleichen Namen wie die Anführerin der japanischen Roten Armee, die die Welt drei Jahre später in Atem halten würde. Anders als ihre Namensschwester litt unsere Hiroko Nagata allerdings nicht an der Basedow-Krankheit.
    In unserer Klasse war einer, der das Glück gehabt hatte, zusammen mit Hiroko Orgelstunden zu haben, als beide noch im Kindergarten waren. Er war ein Schüler mit einem Stipendium, der hoffte, Medizin an der nationalen Hochschule studieren zu können, und er sah so gut aus, dass er sogar Mädchen von anderen Schulen ein Begriff war. Unglücklicherweise sah er nicht »teuflisch« gut aus, sondern war eher gutaussehend auf eine etwas unbestimmte, ungehobelte Art, was ich auf die Tatsache zurückführte, dass er im Kohlebergbaugebiet von Kyushu aufgewachsen war. Wenn wir anderen Dialekt redeten, dann benutzte Tadashi Yamada eine noch viel rauere Sprache, eine Art Super-Dialekt, den man nur in den Bergbaugebieten von Kyushu hörte. Pech. Wäre Yamada schon in der Unterstufe auf eine Schule in der Stadt gegangen, würde er jetzt vielleicht Gitarre spielen, Moped fahren, hip genug sein, um im Café Eiskaffee und kein Reiscurry zu bestellen, und er würde Marihuana rauchen, wonach alle heimlich ganz wild waren, und böse Mädchen um einen Fick bitten. Doch obwohl er diese ganzen Eigenschaften nicht hatte, sah er wirklich gut aus. Wir nannten ihn Adama, weil er dem französischen Sänger Adamo ein bisschen ähnelte.
    Mein Name ist Kensuke Yazaki. Ich wurde Kensuke genannt, oder Ken-san oder Ken-chan oder Ken-yan oder Ken-bo oder Ken-ken, aber ich hatte meinen Freunden gesagt, dass sie mich nur Ken nennen sollten. Ich war nämlich ein großer Fan des Comics Ken der Wolfsjunge .

    Es war im Frühling 1969. Die ersten Prüfungen des Jahres waren zu Ende, und ich hatte bei allen miserabel abgeschnitten.
    Meine Noten hatten sich stetig und in alarmierendem Ausmaß verschlechtert, seit ich auf die Oberschule gekommen war. Es gab verschiedene Gründe, die ich dafür verantwortlich machen konnte - die Scheidung meiner Eltern, der plötzliche Selbstmord meines jüngeren Bruders, die Lektüre von Nietzsches Schriften, der Schock, als ich erfuhr, dass meine Großmutter unheilbar erkrankt war -, aber keiner dieser Gründe traf zu. Fakt war einfach, dass ich keine Lust hatte zu lernen.
    Fakt war allerdings ebenso, dass man 1969 bequemerweise dazu neigte, Leute, die auf die Uni gehen wollten, als Lakaien des Kapitalismus zu bezeichnen. Zenkyoto, der Vereinigten Campus Aktions Bewegung, ging nach und nach die Luft aus, aber immerhin hatte sie es geschafft, die Tokioter Universität eine Zeit lang außer Betrieb zu setzen.
    Naiv, wie wir waren, hofften wir alle, dass sich wirklich irgendwas ändern würde. Und wie es dem Zeitgeist entsprach, war klar, dass es einem dabei nicht helfen würde, wenn man auf die Universität ging; Marihuana rauchen half aber ganz bestimmt.
    Adama saß auf dem Platz hinter mir. Jedes Mal, wenn wir unsere Aufgabenbögen nach vorne durchgeben mussten, schaute ich kurz auf seine Blätter. Er hatte immer dreimal mehr Fragen als ich beantwortet. Als die Prüfungen vorbei waren, ließ ich die
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