Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
69

69

Titel: 69
Autoren: Ryu Murakami
Vom Netzwerk:
auf den Aussichtsturm. Die Sonne begann, im Meer unterzutauchen.
    »Ich glaube, die putzen jetzt gerade alle das Klassenzimmer, was?«, sagte er, schaute auf die Bucht und lächelte. Ich lächelte auch. Adama lernte die Freuden des Schuleschwänzens. Er bat mich, ihm noch mal den Gedichtband zu zeigen.

Ich habe es gefunden
    Was?
    Ewigkeit
    Die Verbindung von Sonne und Meer

    Adama las es laut. Er schaute aus den Augenwinkeln auf das Band aus Sonnenlicht, das auf dem Wasser glitzerte, und bat mich, ihm das Buch zu leihen. Ich lieh es ihm, genauso wie eine Platte von Cream und eine von Vanilla Fudge.
    So begann 1969, das drittinteressanteste Jahr meiner zweiunddreißig Jahre.
    Wir waren siebzehn.

IRON BUTTERFLY
    1969 waren wir siebzehn, und wir hatten noch immer unsere Jungfernhäutchen . In diesem Alter Jungfrau zu sein ist nichts, auf das man unbedingt stolz sein könnte oder dessen man sich unbedingt schämen müsste, aber es war etwas, das uns schwer auf der Seele lag.
    In dem Winter, in dem ich sechzehn wurde, lief ich von zu Hause weg. Der Grund dafür war, dass ich einen fundamentalen Widerspruch im herrschenden System der Zulassungsprüfungen zur Universität entdeckt hatte und weg von zu Hause und der Schule und raus in die Welt wollte, um besser darüber nachdenken und mir den Kopf über die Bedeutung des Kampfes zerbrechen zu können, der sich zwischen den radikalen Studenten und dem Flugzeugträger Enterprise entwickelt hatte. Sorry. Das stimmt nicht so ganz. Die Wahrheit ist, dass ich beim Langstreckenlauf unserer Schule nicht mitmachen wollte. Langstrecke war immer schon meine schwache Seite. Ich hasste das seit der Mittelschule. Jetzt bin ich zweiunddreißig und weiser, aber ich hasse es immer noch. Es war nicht so, dass ich ein Schwächling oder so gewesen wäre; es war nur einfach so, dass ich die Angewohnheit hatte, irgendwann abrupt zu bremsen und einfach weiterzugehen, weil ich fand, dass ich genug gelaufen sei. Nicht, weil ich Seitenstechen bekam oder weil mir schlecht oder schwindelig wurde, ich fing nur einfach an zu gehen, sobald ich mich ein bisschen müde fühlte. Nun, tatsächlich war ich gesünder als die meisten anderen. Ich hatte ein Lungenvolumen von über sechs Litern, und kurz nachdem ich auf die Oberschule gekommen war, fand ich mich mit dreizehn oder vierzehn anderen Jungs im Leichtathletik-Clubraum wieder. Der Trainer war ein junger Kerl, ein frischgebackener Absolvent der japanischen Hochschule für Gesundheit und Leibeserziehung. Er war einer der sechs Sportlehrer, die die Schule eingestellt hatte, um uns für das nationale Sportfest vorzubereiten, das in zwei Jahren in Nagasaki stattfinden sollte. Einer war ein Experte für Judo, einer für Handball, einer für Basketball, einer für Leichtathletik, einer für Schwimmen und einer eben für Langstreckenlauf. 1969, als »Nieder mit dem nationalen Sportfest« einer der Schlachtrufe für unseren Schüleraufstand wurde, boten diese Experten ein hervorragendes Angriffsziel. Außerdem mochten sie uns auch nicht besonders.
    Kawasaki, der Lauftrainer, hatte einen Quadratschädel, lockige Haare und kurze, aber kräftige Beine, die ihm Japans drittbestes Ergebnis aller Zeiten über fünftausend Meter eingebracht hatten. Das war die Nummer, die wir uns im Clubraum anhören mussten:
    »Für Fünfzehnjährige habt ihr Jungs alle fantastische Lungen. Ich will, dass ihr ein Langstrecken-Team werdet. Niemand zwingt euch mitzumachen, natürlich nicht, aber ich rate euch stark, es zu tun. Ihr wisst es vielleicht nicht, aber ihr seid alle zu Langstreckenläufern geboren, und wir werden Sieger aus euch machen.«
    Ich war entsetzt, als ich erfuhr, dass mein Herz-Kreislauf-System mich von meiner Geburt an zu dieser trüben Zukunft verurteilt hatte.
    Als die Winterferien vorbei waren, wurde der gesamte Sportunterricht dem Training für den jährlichen Schulmarathon gewidmet. In diesem ersten Jahr war ich den ständigen Attacken von Kawasaki ausgesetzt. Weil ich immer plötzlich ins Gehen verfiel, nannte er mich, ich zitiere, einen »Schlappschwanz«.
    »Hör zu«, sagte er, »Laufen ist die Grundlage für den gesamten Sport, nein, es ist noch mehr, es ist die Grundlage des gesamten Lebens. Die Leute vergleichen das Leben immer mit einem Marathon, oder? Yazaki, du Penner, du hast ein Lungenvolumen von 6100, und du lässt dich hängen und bist die Strecke noch nicht ein einziges Mal gelaufen. Du bist ein Schlappschwanz und wirst in der Gosse enden, du
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher