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01 - Miss Daisy und der Tote auf dem Eis

01 - Miss Daisy und der Tote auf dem Eis

Titel: 01 - Miss Daisy und der Tote auf dem Eis
Autoren: Carola Dunn
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nicht die fröhlichen blauen, die sie jetzt anblickten.
    In dem einen Winkel ihres Mundes, der von eher großzügigen Proportionen war und keineswegs dem Rosenknospen-Schönheitsideal entsprach, saß der kleine braune Leberfleck, unter dem sie schon ihr ganzes Leben lang litt. Egal, wie viel Puder sie auflegte, er wollte einfach nie ganz verschwinden.
    Die verstreuten Sommersprossen auf ihrer Nase konnte man jedoch überdecken. Daisy nahm ihren Schminkbeutel aus der Handtasche und machte energischen Gebrauch von ihrer Puderquaste. Sie zog etwas Lippenstift nach und lächelte ihr Spiegelbild an. Auch wenn sie auf der Reise zu ihrem ersten großen journalistischen Auftrag für Town and Country so wirken wollte, als sei dies alles für sie schon Routine, mußte sie doch zugeben, daß sie ziemlich aufgeregt war.
    Mit ihren fünfundzwanzig Jahren hätte sie weltgewandt und selbstbewußt sein müssen, doch gelang es ihr nicht, die Schmetterlinge im Bauch zu verscheuchen. Sie mußte den Auftrag einfach gut hinbekommen. Die Alternativen waren zu niederschmetternd, um überhaupt an sie zu denken.
    War der saphirgrüne glockenförmige Hut von Selfridges Bargain Basement nicht vielleicht etwas zu auffällig für eine berufstätige Frau? Nein, beschloß sie, er gab ihrem alten dunkelgrünen Tweedmantel ein bißchen Schwung, genau, wie sie es gewollt hatte. Sie richtete den grauen Pelzkragen, den sie sich von Lucy ausgeliehen hatte. Er war eleganter als ein Wollschal, wenn auch weniger praktisch an diesem eisigen Januarmorgen.
    Sie setzte sich wieder und nahm die Zeitung, die ihre Mitreisende dagelassen hatte. Daisy hatte kein übermäßiges Interesse daran, auf dem Laufenden zu sein, und die Schlagzeilen an diesem zweiten Tag des Jahres 1923 waren die gleichen wie vor ein oder zwei Wochen: Unruhen im Ruhrgebiet und in Irland; Mussolini, der in Italien Reden hielt; die Inflation, die in Deutschland wütete.
    Sie schlug die Zeitung auf, las einen kurzen Artikel über die letzten wundersamen Funde aus dem Grab von Tutenchamun und stieß dann auf eine Überschrift:
     
    RAUBÜBERFALL AUF FLATFORD
    Scotland Yard ermittelt
     
    Daisy war zusammen mit Lord Flatfords Tochter zur Schule gegangen, wenn auch nicht in dieselbe Klasse. Unglaublich, wie schon die bloße Erwähnung einer Bekannten interessanter sein konnte als die wichtigsten Auslandsnachrichten.
    In den frühen Morgenstunden des Neujahrstages waren Diebe mit dem kostbarsten Schmuck der Hausgäste der Flatfords entkommen - nach dem Sylvesterball waren die Preziosen noch nicht in Lord Flatfords Safe zurückgebracht worden.
    Daisy hatte keine Zeit mehr weiterzulesen, denn das Rattern des Zugs auf den Gleisen verlangsamte sich erneut, und der nächste Halt war Wentwater. Nach einem kurzen Kampf mit dem Ledergriff gelang es ihr, das beschlagene Zugfenster herunterzuziehen. Sie schauderte bei dem eisigen Luftstoß, der den schweren, unverkennbaren Geruch einer mit Kohlen geheizten Dampflok hineinwehte, und fragte sich, ob Halsschmerzen nicht vielleicht doch ein zu hoher Preis für Eleganz waren.
    Immerhin spendete der Knoten ihrer honigbraunen Haare im Nacken unter der Hutkrempe etwas Wärme. Dieses eine Mal war sie doch froh, daß sie ihrer Mutter nachgegeben hatte und sich die Haare nicht hatte kurz schneiden lassen.
    Der Zug ratterte und schuckelte und hielt schließlich an.
    Daisy lehnte sich aus dem Fenster und rief: »Träger!«
    Der Mann, der daraufhin auf sie zukam, schien auf einem Holzbein zu gehen, zweifellos hatte er sein eigenes im Großen Krieg verloren. Dennoch eilte er rasch den schneegefegten Bahnsteig herunter. Er tippte mit der Hand an seine Schirmmütze, als Daisy aus dem Zug stieg, Lucys kostbaren Photoapparat fest umklammert.
    »Gepäck, Madam?«
    »Ja, ich fürchte, es gibt sogar einiges zu tragen«, sagte sie schüchtern.
    »Keine Sorge, Madam.« Er hüpfte behende in das Abteil und holte ihren Mantelsack, das Stativ, den Gladstone-Koffer und die Reiseschreibmaschine, die ihr Redakteur ihr geliehen hatte, aus dem Gepäcknetz. Schwer bepackt bahnte er sich einen Weg nach draußen. Er stellte alles ab, schlug die Tür krachend zu und hob den Arm. »Auf geht's!« rief er dem Zugführer zu, der in seine Trillerpfeife blies und die grüne Flagge schwenkte.
    Während der Zug sich schnaufend in Bewegung setzte, ging Daisy über den Fußgängersteg zum Bahnsteig gegenüber. Sie schaute sich um. Der Bahnhof war nicht viel mehr als eine Haltestelle, und sie war die
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