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Weihnachtsengel küsst man nicht

Weihnachtsengel küsst man nicht

Titel: Weihnachtsengel küsst man nicht
Autoren: S Andresky
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1
DEZEMBER

    »Das Rentier? Wer bin ich? Professor Grzimek? Ich küsse doch kein Rentier!« Lina schob angewidert den großen flauschigen Rentierkopf von sich weg und stolperte dabei fast über ihr bodenlanges Engelsgewand. Das Rentier nahm es nicht persönlich und begann mit seinen fleischigen Lippen am Heuballen zu kauen, auf dem das Jesuskind lag.
    Linas Freundin Annette, die dabeistand, griff sich mit beiden Händen an den Hals, drückte zu, verdrehte die Augen und schielte rüber zum Fotografen, dessen Gesicht gefährlich rot angelaufen war. Lina überlegte, ob sie Annettes Geste so deuten sollte, dass er gleich einen Herzinfarkt bekäme oder sich selbst erwürgen würde. Beides wäre ihr recht gewesen. Dann
versuchte sie es auf die diplomatische Art. »Sehen Sie mal«, sagte sie kokosmakronensüß, »dieses Tier ist doch voll unhygienisch. Und diese behaarten Schlauchbootlippen, ehrlich, das sieht aus wie die Reinkarnation von Lolo Ferrari, so was küss ich nicht, das steht nicht im Vertrag, ich würd’s vielleicht tun, wenn ich ein Lappe wäre – bin ich aber nicht, auch wenn ich einen anhabe!« Lina warf sich in ihrem goldfarbenen Sackkleid in Starpose, strich sich die silbernen Locken aus dem Gesicht und wartete auf Gelächter und Applaus für diese gelungene Überleitung zur Kostümkritik. Annette musste grinsen. Tatsächlich hatte Lina so wenig von einem Weihnachtsengel wie Frau Antje, deren lebensgroße Pappfigur hinten im Supermarkt beim Käse stand. Lina war jetzt Anfang dreißig und arbeitete schon seit einigen Jahren in diesem Beruf, bei dem weder sie noch die Partnervermittlerin Annette genau wusste, wie man ihn bezeichnen sollte. Fotomodell? Darstellerin? Oder – etwas realistischer – Supermarktwerbetante? Sie stand mit grünem Fischschwanz bei den Kabeljauwochen in der Feinkost-Jensen-Filiale oder hüpfte als Bunny mit riesigem Puschel
über den österlich geschmückten Parkplatz vom Kinderparadies Görli. Nun gab sie eben den Rauschgoldengel vor der Salami-geschmückten Krippe mit dem Rentier, das sie nun auf Wunsch des Fotografen fürs Foto küssen sollte.
    »Die Katla ist ein gutes Ren, die tut Ihnen nix«, wagte gerade der schüchterne Ren-Vermieter Rudi einzuwerfen, als Lina aufschrie. »Es frisst mich, es frisst mich!«, schrie sie wenig weihnachtlich, sodass einige Kunden neugierig näher kamen. Annette hätte sich selbst in die Cellulitis beißen können, weil sie keine Kamera dabeihatte: Katla nagte begeistert an Linas Bastflügeln, Lina kreischte schrill, schlug nach dem Tier, warf sich herum, stolperte über ihr Walkürengewand, riss die Krippe fast mit um, und Dutzende von Salamis aus der Dekoration prasselten auf das Jesuskind und den hysterischen Engel hinab. Das Ren sah sie mit feuchten, lang bewimperten Augen an, als wollte es sagen »Küss mich endlich!«

2
DEZEMBER

    »Glotz nicht so«, fauchte Lina das Ren an, als der Fotograf wütend das Set vor der Fleischtheke verlassen und rechtliche Konsequenzen angedroht hatte. Da schob sich Rudi zwischen sie und das Tier. »Sie müssen Katla nicht beleidigen«, sagte er ruhig, »so ein Ren ist sensibel. Dass ein schöner Engel wie Sie so uncharmant sein kann.« Lina kam sich wirklich nicht schön vor und überlegte, ob er sie jetzt auf den Arm nehmen wollte, oder ob es ernst gemeint sein könnte. »Ich hasse Weihnachten«, grummelte sie und riss sich die silberne Perücke vom Kopf. Annette half ihr aus den Bastflügeln und knöpfte das Kostüm auf. Lina stand da in ihrer bunten Unterwäsche und bemerkte nicht Rudis Blicke, der jetzt einen ähnlichen Gesichtsausdruck
machte wie Katla, wenn sie Engelsflügel fraß: hingebungsvoll und verzückt.
    »Warum nimmst du dann solche Aufträge an?«, fragte Annette und faltete den goldenen Stoff zusammen. »Du hättest eine Neandertalerin auf der Musterhausmesse machen können.« »Weil«, erklärte Lina sehr geduldig, »ich gedacht habe, ich stehe hier supersexy in einer Wolke von einem Kleid herum und kann gleich den Chiffre-Typen becircen. Stattdessen sehe ich aus wie eine Mischung aus Litfaßsäule und antiker Tragödin und soll mich hier bei sodomitischen Praktiken ablichten lassen.« Annette nickte verständnisvoll. Linas Chiffre-Verabredung hatte sie über dem Chaos ganz vergessen. Zwei Wochen war es her, dass Annette Lina geholfen hatte, eine Kontaktanzeige zu formulieren, immerhin war sie der Anbahnungsprofi – auch wenn sie selbst Single und damit eine schlechte Werbung für ihre
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