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Weihnachtsengel küsst man nicht

Weihnachtsengel küsst man nicht

Titel: Weihnachtsengel küsst man nicht
Autoren: S Andresky
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Karton war zu schwer. Sie musste ihn hier öffnen. Vorsichtig hob sie den Deckel an. Es gab einen Rumms, und mit ohrenbetäubendem Indianergeheul sprang Meister heraus wie ein Revuegirl aus einer Torte. Lina sah fassungslos auf den nackten Mann in den Weihnachtsshorts mit dem blinkenden Rentiergeweih auf dem Kopf und wäre, als sie rückwärts stolperte, fast auf den Stallboden gefallen, hätte Rudi sie nicht aufgefangen. »Hoppla«, sagte er, »anscheinend ist das Ihre natürliche Fortbewegungsart, krebsmäßig rückwärts mit Hang zur Bodenlage.« Er grinste. Meister stand in seinen Boxershorts daneben und heulte immer noch. »Meister, das ist mein Weihnachtsengel«, stellte Rudi sie vor, und Meister sah plötzlich noch fassungsloser aus als Lina.

11
DEZEMBER

    Es klang fast wie ein Rap, als Meister und Rudi abgehackt und sich gegenseitig immer wieder unterbrechend alles aufklärten, und Lina reimte sich aus dem Gestammel zusammen, dass Annette sie als Date hierhergelockt hatte, dass das Paket gar nicht von dem Chiffre-Man war, sondern von Rudi, und dass Meister das Paket erst einmal für sein Date zweckentfremdet hatte. Sie schäumte. Rudi fand sie überwältigend, wie sie als Rachegöttin hoch aufgerichtet und mit bebender Stimme, die keinen Widerspruch duldete, im Stall stand und ihre Gebote verkündete, sodass selbst die Rentiere mit Kauen aufhörten und sie treuherzig ansahen, als sollten sie gleich den Befehl erhalten, zur Arche zu trotten.

    »Sie«, schmetterte Lina und zeigte auf Meister, »ziehen sich augenblicklich etwas an, diesen Anblick ertrage ich wirklich nicht länger, sonst gewöhne ich mir die Männer vielleicht ganz ab, was kein großer Verlust wäre, wenn ich Sie so ansehe. Und dann machen Sie sich hier vom Acker, verstanden?« Meister, der sonst immer eine große Klappe hatte, fiel dazu nicht viel ein, er sammelte seine Kleidung ein und machte sich aus dem Staub. Kaum war Meister aus ihrem Blickfeld, fiel ihr wieder ein, wem sie diesen ganzen Schlamassel zu verdanken hatte. Wie konnte Annette ihr so etwas antun? So verzweifelt, dass sie auf einen verhaltensgestörten Geweihfetischisten mit dem IQ eines Elchs abfahren würde, war sie nun auch wieder nicht. Sie herrschte Rudi an, die Klappe zu halten, als er sich entschuldigen wollte, und kramte ihr Handy hervor.
    Rache musste sein. Sie rief ihren üblichen Pizzaservice an und bestellte ein Dutzend Christmas-Pizzen zu Annettes Adresse. Christmas-Pizzen waren das Perverseste, was die Weihnachtsindustrie je hervorgebracht hatte: Hefeteigböden belegt mit Rosinen, Zimt, Apfelmus
und Mozzarella. Wenn es eine Hölle gäbe, stünde das garantiert auf der Speisekarte. Anschließend lockte sie den russischen Rentnerchor, der in der Grundschule nebenan dreimal in der Woche seine Nastrowjes probte, mit Aussicht auf Freiwodka in Annettes Wohnung ein, und um es komplett zu machen, bestellte sie ihr auch noch eine Kollektion zeltartiger, schrill gemusterter Überwürfe bei dem Versandhandel für Schwangere, für den sie neulich gemodelt hatte, und bestand auf einer sofortigen Lieferung. Danach ging es ihr besser. »Jetzt zu Ihnen«, schnaubte sie und ging drohend auf Rudi zu. »Sie zeigen mir sofort den schnellsten Weg zurück in die Stadt, Sie zahlen meine Tankrechnung, und dann will ich Sie nie wieder sehen müssen, verstanden?« Rudi lächelte freundlich und sagte betont ruhig: »Da werden Sie sich bis morgen gedulden müssen. Wenn Sie mal nach draußen sehen möchten: Wir sind fast eingeschneit.«

12
DEZEMBER

    Die Schneekugel draußen und in Linas Kopf war jetzt so dicht, dass sie gar nicht mehr wusste, wo sie war. Erst weigerte sie sich noch zuzugeben, dass sie mit ihrem Elefantenrollschuh niemals über den Berg kommen würde, aber dann sah sie es ein und fauchte Rudi an, er solle sie mit seinem Traktor abschleppen. »Traktor«, Rudi lachte, »ich bin doch kein Bauer! Und selbst wenn, auch mit einem Trecker kommen Sie da nicht rüber, Sie werden sich schon bis morgen gedulden müssen. Kommen Sie, wir müssen ins Haupthaus, bevor wir hier festsitzen.« Lina tappte leise vor sich hin schimpfend zur Tür, aber Rudi brauchte noch einen Moment. Er ging zu allen Boxen und strich den Tieren über die gelockten Schöpfe.

    Lina musste an ihre Großmutter denken, die immer zu ihr gesagt hatte: »Männer, die Tiere und Pflanzen gut behandeln, sind nicht zwingend nett zu ihren Frauen, aber ganz große Scheusale können Sie auch nicht sein.« Rudi nahm eine
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