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Weihnachtsengel küsst man nicht

Weihnachtsengel küsst man nicht

Titel: Weihnachtsengel küsst man nicht
Autoren: S Andresky
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Trapezartisten erzählen, da gab es einen großen Knall, und es wurde dunkel.

14
DEZEMBER

    »Stromausfall«, sagte Rudi und wies Lina an, da sitzen zu bleiben, wo sie war, damit sie sich nicht an den niedrig hängenden Balken stieße. Er selbst fand sich im Haus wie eine große Katze zurecht, und er ging auch so leise, dass Lina sich erschrak, als er plötzlich wieder neben ihr auftauchte und ein Feuerzeug anschnippste. Er hatte einen Kerzenleuchter dabei und zündete jetzt eine Kerze nach der anderen an. Lina fand das sehr romantisch und sagte es auch, aber Rudi war nicht mehr in Plauderstimmung. »Wenn der Strom im Haupthaus ausfällt«, erklärte er, »fällt auch die Heizung im Stall aus.« »Sind Rentiere Kälte nicht gewohnt?« , schnippte Lina, die sich ärgerte, dass die schöne Stimmung weg war. »Aber die Fohlen
von den anderen nicht«, sagte Rudi kurz angebunden und zog sich an. »Ich muss ihnen Decken auflegen, sonst erkälten sie sich.« Lina sah wieder aus dem Fenster, in dem sich der brennende Leuchter spiegelte, und beschloss, dass es hier im Haus gemütlicher war. Sie nippte vorsichtig am Kakao und sah auf ihr Handy. Auf dem Display war eine SMS von Annette. Sie schrieb, sie habe die grauenvollen Pizzen erhalten und auch die sehr sangesfreudigen und durstigen Russen hätten vor der Tür gestanden. Die Zeltkollektion sei eine Frechheit, und ansonsten entschuldige sie sich und bitte um weihnachtliche Milde. Sie versprach auch, sich etwas einfallen zu lassen, um es wiedergutzumachen. Lina grinste. Sie versuchte im Dämmerlicht der Kerzen eine Antwort einzutippen, als Rudis Telefon klingelte. Lina überlegte einen Moment, ob sie abheben sollte, ließ es dann aber, weil ihr nichts einfiel, was sie hätte sagen sollen, wenn der Anrufer fragen würde, wer sie eigentlich sei: »Hallo, ich bin der Weihnachtsengel, der sich geweigert hat, ein Rentier zu küssen. Herr Bärchinger hat mein Date vertrieben und mir Asyl vor Schneesturm und einem
halbnackten Verrückten gewährt.« Der halbnackte Verrückte war dran. Lina erkannte seine Stimme deutlich. »Hey Rudi«, sagte er, »ist bei dir auch der Strom weg? Deckst du grad die Babies zu? Soll ich rüberkommen und helfen? Sag was, wenn du mich brauchst, ich fahr sofort los. Deine Weihnachtspute ist ja bestimmt für nichts zu gebrauchen und nimmt sich wieder mal wichtiger als die Flauschis.« Er lachte wie ein Panzerknacker und legte auf. Lina wurde plötzlich sehr heiß. Das lag bestimmt am Kakao, vielleicht auch am Rum, der drin war, vielleicht aber auch am Anruf. Sie stand auf und nahm ihre Kleidung aus dem Trockner und machte sich auf ins Unwetter.

15
DEZEMBER

    Rudi streichelte ein kleines büffelartiges Fohlen, das unverhältnismäßig große Hörner hatte, braune Stirnfransen bis über die Augen und bei dem Lina wirklich nicht sicher war, ob es nicht geradewegs aus der Steinzeit kam. Mit ruhiger Stimme sprach Rudi auf das Tier ein, klopfte ihm immer wieder auf den Hals und knüpfte mit der anderen eine Schleife, damit die Decke fest saß. »Wenn sie husten, klingt das qualvoll«, sagte er zu Lina, »darum bring ich sie lieber ins Bett, wenn es so kalt wird.« Lina nickte, schnappte sich ein paar Decken und begann, sie den Tieren überzulegen, wie sie es bei Rudi gesehen hatte. »Hey, bist ja doch ein Weihnachtsengel«, sagte er. »Jedenfalls keine Pute«, schnaubte sie, war sich aber nicht sicher, ob er es gehört hatte.

    Was macht man als Rentiervermieter eigentlich im Sommer? Lina überlegte eine Weile und fragte Rudi schließlich. Die Rentiere, so erfuhr sie, wurden verladen und verbrachten »Ferien in der finnischen Kältekammer«, und die übrigen Tiere konnte man auch im Sommer vermieten, für Fototermine, Filmaufnahmen, Erntedankumzüge oder als Zugtiere für Hochzeitskutschen. Lina stellte sich vor, wie ein winterliches Brautpaar vor der Kirche in einen Rentierschlitten stieg und kicherte. »Ja lach ruhig, wer so einen ernsthaften Job macht wie du, darf an der Stelle lachen«, frotzelte Rudi und verkündete dann, er werde ihr jetzt, damit wieder der nötige Ernst einkehre, die Geschichte eines Kindes von einem der Nachbarhöfe erzählen.
    Ein Mädchen von dem Hof neben Meisters, um genau zu sein. Dieses Kind, berichtete Rudi, habe so geweint, als Weihnachten vorbei war, dass man es gar nicht mehr beruhigen konnte. Zuerst wurden aus den Tränen Eisblumen, und alle kamen und staunten, aber das Mädchen hörte nicht auf zu weinen und überschwemmte
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