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Weihnachtsengel küsst man nicht

Weihnachtsengel küsst man nicht

Titel: Weihnachtsengel küsst man nicht
Autoren: S Andresky
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grinste und lehnte sich zurück. »Mit der Liebe bin ich vorsichtig. Manchmal geschehen hier ganz unheimliche Dinge.« »Ich ahne, was kommt«, spottete Lina.
    Und tatsächlich fing Rudi wieder an zu erzählen: »Da gab es einmal eine junge Frau aus dem Nachbardorf, die hab ich selbst noch gekannt. Aster Nerlt hieß sie, und die hatte die Angewohnheit, bei Vollmond laut zu heulen wie ein Hund. Vor allem in kalten Winternächten stand sie draußen, wo der Wald anfängt, sah zum Mond und heulte. Man sagt, sie habe sich in den Mann im Mond verliebt. Irgendwann musste sie entdeckt haben, dass er der Einzige war, der ihre große Sehnsucht aushalten konnte. Vielleicht hat aber auch er sich sie ausgesucht und sie in einer einsamen Nacht angeschienen, wer weiß. Jedenfalls wurde Aster immer blasser, bis sie fahl war wie das Vollmondlicht. Dann entdeckten ihre Eltern, dass sie nachts leuchtete. Nicht stark, als wäre sie in ein Kernkraftwerk gefallen, nur so ein Flimmern. Und plötzlich
war sie weg. Zu Licht geworden, sagt man. Oder zu einer Sternschnuppe. Und wenn man die sieht, darf man sich was wünschen. Das geht in Erfüllung, weil der große Wunsch der kleinen Aster auch wahr geworden war. Und was wünschst du dir?« Lina schloss die Augen und sah lauter bunte Lichtpunkte. Sie wartete, bis ihr der Wunsch in den Kopf kam und hielt ihn fest. Sie sah Rudi an und beobachtete, wie sich die flackernden Kerzen in seinen weiten Pupillen spiegelten wie Polarlichter. Jedes Licht ein freier Wunsch. »Sag ich nicht«, sagte sie leise.

18
DEZEMBER

    Wie eine Eisprinzessin kam Lina sich vor. Sie stand mit Rudi vor dem Haupthaus im Hof und blinzelte in das gleißende Morgenlicht. Eiszapfen hingen von den Dächern, und der schienbeinhohe Schnee war oben noch einmal in einer Zuckerschicht gefroren. Vor ihren Mündern standen kleine rauchweiße Atemfahnen. Lina lachte. »Das ist ein Tag für Schneeengel«, verkündete Rudi, »und dass man sie jetzt dank der Rechtschreibreform mit drei e schreibt, macht sie nur schöner.« Lina knuffte ihn. »Schneeengel«, fing sie an, »interessieren sich überhaupt nicht für Rechtschreibung, die haben ganz andere Probleme. Das ist so: Zuerst legt man sich auf den Rücken in den Schnee und rudert mit Armen und Beinen. Und dann richtet
man sich in seinem Abdruck vorsichtig auf und muss ganz schnell von seinem Schneeengel wegspringen, damit man ihn nicht erdrückt. Schneeengel entstehen nämlich erst, wenn man sie in den Schnee formt. Und man darf beim Wegspringen nicht die Form mit dem Fuß verwischen, nur intakte Schneeengel können ihren Job machen.« »Und der wäre?« Lina überlegte. »Der passt dann auf seinen Menschen auf, und solange es draußen unter Null ist, passiert ihm nichts.« »Mach doch schnell einen, dann kannst du in deinem Überraschungsei-Auto risikofrei nach Hause schlittern.« Lina spielte beleidigt. »Du hast gar keine Achtung vor Engeln«, schnippte sie. »Hab ich doch«, sagte Rudi leise, und das klang gar nicht gespielt. »Was für eine himmlische Ruhe«, flüsterte Lina, und Rudi nickte, legte ihr eine Hand auf den Rücken, streichelte ihr über die Wange und beugte sich zu ihr hinunter.
    In dem Moment hupte es an der Toreinfahrt laut und schrill. Lina und Rudi fuhren auseinander. Ein großer dunkler Jeep rollte auf den Hof. Ein Mann im Cashmere-Mantel sprang heraus, blitzte Lina mit perlweiß strahlenden
Zähnen an und überreichte ihr einen gewaltigen Rosenstrauß, eher ein Busch als ein Bukett: »Hallo, ich bin dein Date von gestern. Ich hab bei der Agentur angerufen, weil wir uns bei deinem Fototermin ja verpasst hatten, und deine Freundin hat mir erzählt, dass du hier in der Pampa festsitzt. Eine von meinen Rosen ist von ihr, als Entschuldigung für irgendwelchen Ärger.« Lina bestaunte den riesigen Strauß. Rudi ging ohne ein Wort zum Stall. Der Mann strahlte, und Lina konnte nicht anders als zurückzustrahlen. Sie war von dem Lächeln so gefangen, dass sie nicht merkte, wie jemand an ihrem Arm zupfte. Und als sie hinsah, war es schon zu spät, da hatte eines der Rentiere fast den ganzen Strauß gefressen. Aus seinen fleischigen behaarten Lippen hing noch ein Stängel, während es mit großen, glänzenden Augen treuherzig zu der selten sprachlosen Lina hinaufschaute.

19
DEZEMBER

    Das Feuer im Kamin prasselte. Davor lag Hyperion auf dem Teppich und ließ sich laut schnurrend mit bebenden Schnurrbarthaaren von Meister den Bauch kraulen. Meister war irgendwann klar
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