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Mord in Thingvellir

Mord in Thingvellir

Titel: Mord in Thingvellir
Autoren: Stella Blómkvist
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Der zunehmende Mond, in Wolken gebettet, scheint mit gespenstischer Helligkeit ins Schlafzimmer, wo ein elfjähriges Mädchen steif und mit weit aufgerissenen Augen unter ihrer Bettdecke liegt und in eine fremde Welt hineinstarrt.
    Sie weiß von dem fahlen Schein des Mondes, aber sieht ihn nicht – ebenso wenig den bunten Seidenschal, den sie krampfhaft in der Faust hält, die Tapete mit hellroten Rosen gegenüber dem Bett, die hellblauen Sterne auf den weißen Gardinen oder den blauen Teddy mit den Knopfaugen, der sich ganz oben im Regal lümmelt.
    Ihre Augen sehen einen ganz anderen Ort und eine ganz andere Zeit.
    Dort ist es ebenfalls Nacht, und das Mondlicht dringt durch dünne Wolkenschleier. Ein glasklarer Wasserfall rauscht von schwarzen Felsen hinab und fließt zwischen spärlich bewachsenen, steinigen Ufern weiter. Sie sieht auch die Untiefe, wo die Stromschnellen versucht haben, sich auf dem endlosen Weg zwischen Himmel und Erde ein Grab zu graben.
    Es ist, als ob das Grauen in der dunklen Untiefe vor ihren Augen lebendig würde.
    Sie kann sich im Bett nicht rühren. Ihre Hände liegen kraftlos auf der Bettdecke. Ihre Beine sind genauso unbeweglich wie umgestürzte Marmorsäulen, die durch die Jahrtausende im Sandmeer der Wüste versunken sind.
    Aber sie kann nicht vermeiden, das zu sehen, was geschieht.
    Dieses Angst einflößende Bild versetzt ihren Körper in Schrecken und lähmt den Willen. Sie versucht immer wieder, ihre Augen zu schließen, aber die Nervenströme des Gehirns gehorchen ihr nicht.
    Entsetzen scheint aus dem bleichen Gesicht, als es ihr schließlich gelingt, die trockenen Lippen zu öffnen und Hilfe zu rufen. Aber der verzweifelte Schrei bleibt ihr im Hals stecken. Der Druck liegt wie ein Albtraum auf Brust und Schultern und hält sie mit eisernem Griff fest. Es ist, als ob sie ersticken würde.
    Sie ringt nach Atem.
    Die Zeit scheint still zu stehen. Der Augenblick dauert eine halbe Ewigkeit.
    » Jetzt sterbe ich auch « , denkt sie.
    Als alles fast schon zu spät ist, wird sie plötzlich aus dem Griff des Schlafes und des Todes befreit und setzt sich im Bett auf. Ihr Herz schlägt wild in ihrer Brust, das wallende Blut rauscht durch geweitete Adern, und kalter Schweiß strömt an Wange, Hals und Rücken hinunter.
    Endlich, endlich ist die Stimme frei vom Bann der Angst. Die nackten Angstschreie zerreißen die unterwürfige Ruhe der Nacht.

1
    In der Nacht zum Montag, dem 9. August
     
    Die Augustnacht istfeucht.
    Die tiefen, von Spikes gegrabenen Rinnen im schwarzen Asphalt sind mit dreckigem Regenwasser gefüllt. Der hellgraue Skoda pflügt durch die Brühe, dass sie unter den Reifen hervorspritzt.
    »Langsamer«, sage ich leise zum Fahrer.
    Die Nervosität in Andrés’ wettergegerbtem, verlebtem Gesicht ist nicht zu übersehen.
    Er hält das Lenkrad mit beiden Händen fest umklammert. Beugt sich vor. Und tritt hastig auf die Bremse.
    Es ist schon weit nach drei Uhr nachts.
    Ein Schleier von heftigen Wind- und Regenböen hängt über der Innenstadt. Reykjavík wirkt wie immer kalt und abweisend. Es sei denn, man hat schon das vierte Glas intus. Dann spielt das Wetter keine Rolle mehr.
    Weiter unten auf dem Laugavegur glänzen die gelben und roten Rücklichter der Autos, die langsam in Richtung Altstadt rollen. Ein Zeichen dafür, dass hungrige und durstige Nachtschwärmer immer noch in die Stadt unterwegs sind, um während der letzten Stunden in den Bars, Kneipen und Hinterzimmern der Hauptstadt zu saufen, einen draufzumachen und jemanden abzuschleppen, bevor ein neuer Tag beginnt.
    Ich gucke suchend aus dem Fenster.
    »Bieg da links ab«, sage ich. Und zeige auf das leere Grundstück.
    Das Auto rumpelt über den asphaltierten Bürgersteig auf den Schotterplatz, wo ein altes Haus abgerissen wird, um Platz für einen neuen Einkaufstempel zu schaffen. Einige Autos wurden diese Nacht auf dem Schotterplatz geparkt. Große Baumaschinen ebenfalls.
    »Wende und parke da hinten rückwärts ein.«
    Andrés gehorcht. Schaltet das Licht des Skoda aus. Stellt den Motor ab.
    Am anderen Ende des fast leeren Platzes erheben sich an zwei Seiten die Rückfronten sechsstöckiger Wohnhäuser. In den Fenstern brennt nirgendwo Licht. Die Autos auf dem Parkplatz sind ebenfalls dunkel und verlassen.
    Dann gibt es jedenfalls keine Zeugen. Zum Glück.
    Die großen Regentropfen, die auf das Autodach rasseln, hören sich an wie die Aufführung eines schnellen, fußschlanken Stepptänzers. Das Wasser läuft in
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