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01 - Miss Daisy und der Tote auf dem Eis

01 - Miss Daisy und der Tote auf dem Eis

Titel: 01 - Miss Daisy und der Tote auf dem Eis
Autoren: Carola Dunn
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Prolog
     
    Ciro's, um Mitternacht. Die letzten Klänge des Charleston gingen im Applaus für die farbige Kapelle unter. Gespräche wurden wieder aufgegriffen, Gelächter ertönte, und ein junger Mann führte seine Partnerin von der Tanzfläche. Ein älterer Herr beobachtete ihn. Er stellte fest, daß die gutgeschnittene Abendgarderobe des Jüngeren leicht zerknittert war, sein Gesicht auch für einen gerade beendeten schwungvollen Tanz zu rot. Dem Mädchen an seinem Arm schien das gleichgültig zu sein, was allerdings unter der dick aufgetragenen Schminke nicht richtig zu erkennen war. Ihr flitterbesetztes Abendkleid mit der niedrigen Taille war kurz, der gegenwärtigen Mode zum Trotz, die in dieser Saison die Säume wieder auf Knöchelhöhe hatte sinken lassen. Mit ihrem Bubikopf und der lang herabhängenden Glasperlenkette sah sie aus wie eine Revuetänzerin oder schlicht wie ein »flottes junges Ding«. Mit einem verächtlichen Grinsen ging der Beobachter auf sie zu und sprach ihren Partner an. »Auf ein Wort, alter Freund.« Der junge Mann sah ihn mürrisch und abweisend an. »Zum Henker, hat das nicht Zeit?« preßte er gelangweilt hervor. »Mir ist zugetragen worden, daß du morgen nach Hampshire fährst.«
    »Ja. Mein alter Herr besteht darauf, daß sich die ganze Familie zu Weihnachten bei ihm versammelt, aber in vierzehn Tagen bin ich wieder in der Stadt. Wo brennt's denn?«
    »Ich hätte nicht übel Lust, die Wiege deiner Ahnen zu sehen.
    Lad mich doch auch zu euch ein.«
    »Verflixt, das kann ich doch nicht machen! Hör mal, Gloria, geh du schon mal an unseren Tisch.« Er gab dem Mädchen einen kleinen Klaps auf das in rosa Kunstseide gehüllte Hinterteil - also doch eine Revuetänzerin. Sie verzog ihre karminroten Lippen zu einem Schmollmund, beim Gehen wandte sie sich noch einmal um und schenkte dem älteren Mann den Schlafzimmerblick eines Möchtegern-Vamps. »Vermutlich hat meine Schwester dir das eingeflüstert«, fuhr ihr Begleiter mürrisch fort.
    »Denk, was du willst. Ich möchte jedenfalls eingeladen werden.«
    »Mein Alter wird das ziemlich merkwürdig finden.«
    »Dein Alter wird es noch merkwürdiger finden, wenn er von einem gewissen Geschäft erfährt.« Der drohende Unterton in der wohlklingenden Stimme ließ den anderen blaß werden.
    »Ich habe nicht die geringste Absicht, Euer feierliches Familienweihnachten zu stören. Der zweite Weihnachtsfeiertag oder der 27. würden durchaus reichen, und ich bleibe dann gerne noch bis zum neuen Jahr 1923 - ein vielversprechendes Jahr, davon bin ich überzeugt.«
    »Na, dann meinetwegen.« Der junge Mann klang jetzt nur noch verdrießlich. »Hiermit bist du also eingeladen.«
    Er wandte sich ab und drängelte sich durch die lärmende Menge zu seinem Tisch, wo er eine weitere Runde Cocktails bestellte. Fünf Minuten später, als die Kapelle erneut zu spielen begann, führte er seine kichernde Revuetänzerin wieder auf die Tanzfläche, um seine Sorgen bei einem Shimmy zu vergessen.
    Zu diesem Zeitpunkt hatte der Grund für seine schlechte Laune bereits den Nachtclub verlassen, gab dem Chauffeur Anweisungen und lehnte sich im Lanchester zurück, ein kaltes, erwartungsvolles Lächeln auf den schmalen Lippen.

1
     
    »Es wird noch ein schlimmes Ende mit ihm nehmen, das sag ich Ihnen, und sie rührt keinen Finger, um ihn davon abzuhalten. Nur wegen der Kleinen mach ich mir Sorgen.« Die stämmige Dame seufzte tief, wobei ihr altmodischer giftgrüner Umhang sie umwogte. »Vier sind schon da, und das fünfte ist unterwegs und kommt dieser Tage auf die Welt.«
    Daisy Dalrymple war überrascht, daß wildfremde Menschen sie immer wieder mit ihren Lebensgeschichten unterhalten wollten, mit ihren Ehesorgen oder den Missetaten ihrer Kinder. Aber das störte sie im Grunde nicht. Eines Tages würde sie einen Roman schreiben, und dafür war jeder Einblick in die menschlichen Erfahrungen nützlich.
    Dennoch fragte sie sich oft, warum die Menschen ausgerechnet ihr die größten Geheimnisse verrieten.
    Nachdem die rundliche Dame mit dem alkoholkranken Schwiegersohn in Alton ausgestiegen war, hatte Daisy das Damenabteil zweiter Klasse ganz für sich allein. Sie kniete sich auf den Sitz und betrachtete sich in dem kleinen Spiegel, den die L&SW Railway Company aufmerksamerweise dort aufgehängt hatte. Ihr rundliches, im Grunde ganz normales Gesicht lud doch nicht unbedingt zu Bekenntnissen ein. Eine Herzensvertraute, so fand Daisy, sollte dunkle, seelenvolle Augen haben,
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