Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel
Autoren: Baum Vicki
Vom Netzwerk:
Stimme. Das Hinhorchen, Hinspähen, Hinwarten auf seine Stimmung fraß ihr die Nerven weg, manchmal zitterte die Furcht körperlich fühlbar als eine kleine Kälte ihr Rückenmark entlang. Sie hätte den Mann gern in die Arme genommen, eingebettet, weich gemacht, ruhig gemacht. Aber gerade das konnte er nicht brauchen. Er stand im Kampf gegen eine Stadt, im Kampf gegen die Krankheit, zuletzt sogar im Kampf gegen die eigene Wissenschaft. Er mußte hart und ruhelos bleiben.
    Nun hatte er seit drei Jahren den Arbeiter Lungaus im Angermannshaus, das widerspenstige und streitsüchtige Objekt seiner medizinischen Experimente und das Zentrum, um das seine Gedanken kreisten. Es war zwanzig Minuten nach fünf, Schluß der Sprechstunde, und der Dunst aller ängstlichen und kranken Menschen, die den Nachmittag lang hier vorbeidefiliert waren, machte die Luft im Ordinationszimmer schwer.
    »Anziehen«, sagte Doktor Persenthein und wusch sich die Hände. Lungaus kroch in seine Kleidung zurück.
    Der Doktor schichtete Lungaus' Krankenblätter zusammen, sie gaben fast eine kleine Broschüre ab. »Sie sind also jetzt gesund, Lungaus«, sagte er.
    »Na –?« erwiderte Lungaus zweifelnd und angelte nach seinem Hosenträger.
    »Doch. Sie bleiben weiter bei mir im Haus und unter Aufsicht, aber Sie fangen wieder zu arbeiten an. Ich habe mit Herrn Profet gesprochen.«
    »Will er mir denn wieder nehmen?«
    »Ich habe ihn gebeten. Er tut es mir zuliebe.«
    »Ihnen? Er kann Ihnen doch nicht riechen.«
    »Vielleicht hat er Respekt vor mir, seit ich ihm den Gewerbe-Inspektor in die Fabrik gehetzt und die neue Staubabsaugevorrichtung durchgesetzt habe«, sagte Persenthein ausführlich. Merkwürdigerweise reizte ihn die störrische und unzufriedene Art von Lungaus immer zu längeren Gesprächen.
    »Wegen der«, sagte Lungaus denn auch prompt. »Davon ist noch keiner weniger krank geworden.«
    »Schön. Dann tut er es, weil er neugierig ist, wie das mit Ihnen weitergeht. Schließlich hat Herr Profet allerhand Interesse daran, ob wir mit der Bleikrankheit fertig werden oder nicht.«
    »Nein. Bestimmt nicht«, erklärte Lungaus sogleich. »Das letztemal hat es mir nach vier Monaten auch wieder gehabt.«
    »Abwarten«, erwiderte der Doktor, der genau so unfreundlich sein konnte wie Lungaus.
    »Dann will ich nicht in die Bude zurück. Dann will ich aufs Gut, wenn Sie mir schon durchaus gesund schreiben wollen«, sagte Lungaus und setzte sich auf den Untersuchungsstuhl, als wenn er nun viel Zeit für eine gründliche, erfrischende Auseinandersetzung vor sich wüßte. Der Doktor stieß ungeduldig mit dem Fuß gegen den weißen Eimer mit Watteabfällen.
    »Aha«, sagte er. »Aha. Jetzt wollen Sie aufs Gut. Sonst kann man euch zureden wie Waldeseln, und die Raitzolds können sich die Beine ablaufen, sie kriegen keine Leute aufs Gut. Alle wollt ihr in die Fabrik. Aber wenn ihr mal auf der Nase gelegen habt mit Blei in den Knochen wie Sie vor drei Jahren, dann wollt ihr aufs Gut. Nee. Jetzt müssen Sie in die Fabrik zurück. Darauf kommt's mir ja jetzt gerade an.«
    »Zwingen kann mir keiner«, sagte Lungaus. Doktor Persenthein sprang auf und rannte dreimal rund um den Untersuchungsstuhl. Dann rückte er so nahe auf Lungaus zu, daß der Angst bekam und die Schulterblätter einzog.
    »Mensch«, sagte Persenthein. »Jetzt hören Sie mal zu. Sie werden in die Fabrik zurückgehen, und Sie werden gesund bleiben, das sage ich Ihnen. Sie vergessen wohl, was wir miteinander abgemacht haben, bevor ich Sie ins Haus genommen habe. Sie vergessen wohl, wie und wo ich Sie aufgelesen habe? Man hat Sie durchgebracht, man hat Sie gesund gemacht, drei Jahre Arbeit, was, Arbeit, drei Jahre Leben hat man an Sie gehängt, bis man Ihren Kadaver so weit gebracht hat, sich zu besinnen, sich zu wehren. Unser ganzes Geld hat man an Sie gehängt, die Frau hat sich abgeschunden für Sie wie ein Tier, bewacht hat man Sie, Schweinereien haben Sie uns gemacht, gelogen haben Sie, alle Notizen hat man dreimal anfangen müssen, weil Sie heimlich saufen gegangen sind, die Befunde von einem Jahr haben Sie mir über den Haufen geschmissen durch Ihre Schwindeleien. Ein volles Zuchthaus bewache ich lieber als einen Menschen wie Sie, der genau nach der Vorschrift leben soll. Jetzt hat man Sie endlich so weit, jetzt soll die Probe aufs Exempel gemacht werden, da möchten Sie auskneifen. Das können Sie mir nicht antun, Lungaus –«
    Lungaus schaute zum Doktor hinüber. Persenthein stand jetzt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher