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Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel
Autoren: Baum Vicki
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überflüssig, dieses Kind stand so fest in seinen kleinen nassen Stiefeln, zeigte kein Gefühl, wollte kein Gefühl. Frau Persenthein tauchte wieder in der Wirtschaft unter und hatte reichlich zu tun bis fünf Minuten vor eins. Da fuhr gerade das Postauto zum zweitenmal zur Bahn, das Haus zitterte pünktlich, Mörtel fiel aus der Wand; Elisabeth schoß mit dem Essen zu Lungaus in die Kammer und dann ins Schlafzimmer, um den Küchengeruch von den Händen zu waschen. Sie hatte früher einmal hübsche Hände gehabt und war noch immer ein bißchen eitel darauf. ›Früher einmal!‹ Das hatte für die neunundzwanzigjährige Elisabeth einen Klang, als wenn sie achtundsiebzig wäre. Sie schaute gedankenleer in den Spiegel, während sie die Küchenschürze abband. Es war ein kleiner, alter Spiegel, der in Scharnieren schräg gestellt werden konnte; man sah nicht alles auf einmal in seiner grünlichen Tiefe, sondern hübsch eins nach dem andern: jetzt das Gesicht, schmal, mit der kleinen Falte überm linken Auge; die Lippen etwas zu breit und etwas zu blaß; die Haare mochten angehen, sie waren wie die von Rehle, glatt und hellbraun. Dann der Hals, etwas zu lang, etwas zu mager. Dann Schultern und Brust – nun ja! Elisabeth fand sich nicht hübsch. Sie fand, daß sie eine Figur hatte wie Sigismunde von Raitzold auf dem Steinsarkophag in der Lohwinckler Kirche, Sigismunde, die vierhundert Jahre alt und auch nicht hübsch war, während Kola dem unternehmenden heiligen Georg auf dem Angermannsturm ähnlich sah –
    Sie ging zum Fenster des Wohnzimmers und schaute zum Angermann hinauf. Der heilige Georg ritt mit eingelegter Lanze gegen den Drachen los, er sprühte Mut und der Drache Feuer, und beide waren aus Holz. Elisabeth hatte den heiligen Georg schon geliebt, als sie noch ein kleines Mädchen war und an der Hand ihres Vaters, des Gymnasialdirektors Burhenne, unter dem Angermann durchspaziert war. Später fand sie, daß der heilige Georg so aussah wie Schiller. Und noch etwas später bemerkte sie, daß der junge Doktor Persenthein so aussah wie der heilige Georg …
    Sie ging hinunter, klopfte dreimal an die Tür des Ordinationszimmers und flüsterte: »Kola, du mußt essen kommen. Es wird sonst zu spät.«
    »Sofort«, sagte der Doktor drinnen. Sofort bedeutete bei Kola noch eine Viertelstunde. Elisabeth ging wieder hinauf, der Tisch war gedeckt, sie öffnete für einen Augenblick das Piano, schlug ein paar Töne an und horchte ihnen mit geöffnetem Mund nach, bis sie verschwebt waren. Das Auto kam von der Bahn zurück, das Haus zitterte, Mörtel fiel. Oben hörte man Rehle einen hellen Streit mit Lungaus führen. Unten schlurrten die Stiefel der letzten Vormittagspatienten zur Haustür. Elisabeth trat wieder ans Fenster. Sie mußte nachsehen, ob Doktor Persenthein wirklich dem heiligen Georg ähnlich sah.
    ›Nein‹ – dachte sie, während sie die Suppe austeilte; ›er sieht ihm gar nicht mehr ähnlich.‹
    Doktor Persenthein, das ist ein Mann von achtunddreißig Jahren, ein großer, magerer Mensch mit schweren, breiten Schulterknochen und einer hellen Haut, unter der an überanstrengten Tagen die Adern bläulich durchschimmern. Das Haar tritt über der Stirn in zwei tiefen Ecken zurück und wird dünn. Die große Nase hat einen kühnen, schmalen Sattel, der Mund mit den breiten Zähnen nimmt viel Platz ein, von den tiefgekerbten Mundwinkeln zur Nasenwurzel läuft eine Falte von heftigem und angespanntem Charakter.
    Doktor Persenthein, Sohn eines mittleren Beamten, der etwas Besseres als der Vater werden sollte, studierte Jus, kiebitzte ein wenig in den Hörsälen der medizinischen Kollegs, blieb dort hängen, sattelte um, setzte gegen Familie, Tod und Teufel den Willen zur Medizin durch, der sich langsam in ihn hineingefressen hatte. Studium in zwei kleinen Städten mit zwei großen Universitäten. Physikum, Staatsexamen, Promotion. Anatomie, Physiologie, Histologie, Pathologie, Bakteriologie. Dissertation über die Hypernephrom-Metastasen der Knochen. Der Weltkrieg. Volontärarzt an dem großen neuen Krankenhaus der Halbmillionenstadt Markenheim. Die ersten Fehldiagnosen. Die ersten Kunstfehler. Die ersten letalen Ausgänge. Herzschlag während der Narkose. Warum? Luftembolie bei einer ganz kommunen Kropf opération – warum? Verblutung nach einer Gallenblasennaht – warum? Solche Dinge passierten nicht etwa ihm, dem kleinen Volontär, sondern dem großen, weltberühmten Chirurgen, dem Geheimrat, der
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