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Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel
Autoren: Baum Vicki
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Steinen gefügt, zwischen denen die Jahrhunderte den Mörtel lose gemacht hatten. So oft unten ein Auto durch das Stadttor in Lohwinckel einfuhr, begann das ganze Angermannshaus zu beben. Diele, Treppe und Deckengebälk stießen Seufzerlaute aus, die leise Wehklage sehr alten Holzes, das ein paar hundert Jahre lang Lasten getragen hat. Frau Persenthein konnte in solchen Augenblicken, sonderbar starr und gesammelt, still stehen, das Beben in den Mauern mitspüren und dem merkwürdigen Klang im Gebälk nachhorchen. Ein wenig Mörtel rann dann herunter, zwischen dem Fachwerk hervor und auf die Dielen. Frau Persenthein weckte sich auf, holte das Staubtuch aus dem Verschlag, kniete hin und wischte das kleine Mörtelhäufchen fort.
    »Gebense Obacht, Mutter«, pflegte der Arbeiter Lungaus zu sagen, den sie oben in der Bodenkammer wohnen hatten – »gebense Obacht, einmal kracht uns die ganze Bude überm Kopf zusammen.« Frau Persenthein war neunundzwanzig und Lungaus war achtundfünfzig und konnte die Frau nicht leiden, aber er nannte sie Mutter. »Im Dach hat es die ganze Nacht geknorzt –«, verkündete er mit düsterer Miene, wenn Frau Persenthein ihm sein Frühstück gab. Sie dachte zuweilen eine halbe Minute über seine Prophezeiungen nach, und dann sagte sie: »Nein, Lungaus, das hält, glaube ich.«
    »Wenn ich sage –« erwiderte Lungaus, der krank und von ungeduldiger Natur war.
    »Lassen Sie nur, Lungaus. Die Mauer hat ein paar hundert Jahre gehalten, die hält auch uns noch aus. Nur der Mörtel ist ein bißchen lose«, schloß Elisabeth solche Dialoge, trug Lungaus' Milchtasse in den Spülstein, wischte geduldig das bißchen kalkigen Staub auf, den das Morgen-Bahn-Auto aus den Fugen geschüttet hatte, und brachte das Staubtuch in den Verschlag.
    »Das Haus ist ein Luder, ein tückisches«, behauptete Lungaus und kam ihr nachgetappt in die Küche. An den nackten Füßen trug er Doktor Persentheins alte Pantoffeln, Doktor Persentheins verflossene Hosen beulten sich mit Flicken über seinen spitzen Knien, und um den ganzen Menschen hing stets ein bitterer Geruch. Nasses Laub im späten November riecht so. Elisabeths Nerven waren immer ein wenig irritiert, wenn die Kleidungsstücke ihres Mannes an Lungaus' Körper durch die Wohnung gespensterten. Trotzdem sagte sie freundlich: »Ja, da haben Sie recht. Das Haus hat es in sich.«
    Das Haus nämlich, winklig und vertrackt, machte unendliche Arbeit, es war schwer in Ordnung zu halten, schwer zu lüften, schwer zu heizen. Es kostete wenig Miete, fraß aber auf hinterhältige Weise eine Menge Geld auf. Reparaturen gab es immer und immer. Elektrisches Licht hatte man legen, dann eine Wasserleitung einbauen lassen – der Doktor brauchte fließendes Wasser im Ordinationszimmer. Und als man fließendes Wasser hatte, gab er keine Ruhe, bevor er nicht im Keller eine Art kleiner Badeanstalt errichtet hatte: Salzbäder für rachitische Kinder, Kohlensäurebäder – und zuletzt sogar eine Art Inhalatorium. Die ganze Bevölkerung der Vorstadt Obanger vergnügte sich in diesen Bädern, sie kosteten den Arzt eine Menge, und die Krankenkasse zahlte so gut wie nichts dafür. Aber Kola war ein Sonderling, und die Bäder gehörten zu seiner Idee, einer Idee, von der noch viel die Rede sein wird …
    Lungaus nahm Platz auf der Kohlenkiste, ließ die Beine baumeln, die Pantoffeln fielen von ihnen ab wie reife Früchte, und die großen Zehenballen kamen zum Vorschein; er schaute zu, wie die Frau Feuer im Herd ansteckte.
    »Kleinholz müßt man mal wieder machen«, bemerkte er.
    »Ja, das wäre gut, Lungaus«, sagte Elisabeth ermunternd.
    »Ich befinde mir mittelmäßig«, erwiderte Lungaus darauf abweisend.
    Elisabeth seufzte und erschrak. »Lungaus – Sie haben doch nicht – wie? Im weißen Schwanen? Etwas gegessen? Wurst? Salzbrezeln? Nein? Getrunken? Geraucht? Mir müssen Sie die Wahrheit sagen – ich bekomme ja auch die Anschnauzer vom Doktor, nicht Sie! Haben Sie?«
    »Ach wo –« sagte Lungaus ungewiß, was Elisabeth wenig befriedigte. Sie schaute Lungaus genau und forschend an – er sah eigentlich nicht schlecht aus. Seine Lippen zeigten die richtige Farbe, und um den Hals hatte er ein wenig zugenommen. »Wo ist überhaupt das Rehle?« fragte Lungaus streng, während Elisabeth noch vor dem widerspenstigen Herdfeuer kniete und den blauen Qualm des feuchten Holzes einatmete.
    »Das Kind ist natürlich mit dem Doktor auf Visite«, antwortete sie
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