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Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baum Vicki
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Augenblick, und dann malte sie rasch einen kleinen Kreis neben diese Meldung in den Block. Das war ein Geheimzeichen. Das bedeutete seit langen Zeiten einen Kuß. Das bedeutete: Armer Kola! Und: Mach dir nicht zu viel Kummer. Und: Ich bin da, Elisabeth, und ich möchte dich trösten –
    Übrigens liebte Doktor Persenthein es durchaus nicht, wenn solche Liebeszeichen wie Sonnenkringel in seinen Büchern herumflirrten. Und als Elisabeth noch eine Minute so da stand in einer ihrer nachdenklichen Erstarrungen und sehr deutlich das kochende Summen im Sterilisator hörte und sehr deutlich den alten dicken Band Aristoteles neben den Stapeln von Fachzeitschriften auf dem tiefen Fensterbrett sah – da kam sie sich unaufrichtig vor mit ihrem runden Siegel neben der schlechten Nachricht. Es war nur eine Formalität und nicht als echtes Gefühl gespürt; nicht mehr mit dem saugend-schmerzlichen Zerren gespürt, das die Liebe dem Herzen antut – nein! Und Elisabeth nahm den Radiergummi, löschte den Kuß wieder weg und ließ den verpfuschten, vergifteten und amputierten Arm des Jakob Wirz unbeschönigt und allein im Block stehen.
    Als sie in die Diele hinauskam, saßen da schon Leute, eine Frau aus Düßwald samt Kind, Lieschen vom Gut mit ihrem Mittelohr und ein magerer Arbeiter von miserablem Aussehen, der mit stumpfem Ausdruck seine Mütze drehte.
    »Tag, Herr Lingel«, sagte Elisabeth. »Na, geht's denn schon wieder los mit Ihnen?«
    »Das ist schon so mit der Bleivergiftung – das sitzt alle paar Monate wieder in den Knochen«, sagte der Mann geduldig.
    »Na – der Doktor muß gleich hier sein«, sagte Elisabeth und wanderte die Treppe hinauf. Diagnose auf Bleivergiftung konnte sie nun sozusagen schon ohne ihren Mann stellen; es war eine Lohwinckler Spezialkrankheit, die man sich in Profets Akkumulatorenfabrik ohne weiteres holen konnte. Manche erwischten sie nach drei Monaten und rückten beim Doktor an mit dem schwärzlichen Streifen am Lippensaum, glanzlosen Augen und den gewissen Schmerzen im Magen. Andere arbeiteten fünfundzwanzig Jahre bei Profet, ihr Jubiläum wurde im ›Anzeiger für Stadt und Land‹ gefeiert, und sie blieben dabei munter und gesund wie die Kaulquappen.
    »Disposition«, sagte Doktor Persenthein, der in der Hast der Praxis die Gewohnheit angenommen hatte, von den meisten Sätzen nur das Subjekt auszusprechen. Übrigens war er keine resignierte Natur, dieser Doktor Persenthein, er war ein Kampfhahn erster Ordnung, und nachdem er einige Zeit in Lohwinckel praktiziert hatte, machte er sich nicht nur über die Bleivergiftung her, sondern auch über die Disposition dazu. Er tastete mit seinen Gedanken vor wie mit einer Sonde, bis er auf die Idee stieß, auf seine Idee. Mein Gott, ein junger, nicht übermäßig geschickter Landarzt, Doktor eines Marktfleckens von siebentausend Seelen – was sollte ihm die Idee? Sie machte ihn fremd, alt, voll Kanten und Beulen, sie stellte ihn mitten in ein Vakuum, eine luftleere, unmenschliche Einsamkeit, diese Idee, die er hatte oder die ihn hatte. Seit Doktor Persenthein sich mit dem Denken eingelassen hatte, war das Angermannshaus eine Art Fegefeuer geworden …
    Frau Persenthein ging in die Küche und begab sich ans Kochen. Das war in diesem Haus eine verzwickte Angelegenheit, eine Beschäftigung, der etwas von leiser Verrücktheit anhing. Da war Lungaus' teure und merkwürdige Diät; Gemüse, Obst, rohe Eier, merkwürdiges, selbstgebackenes Brot, lauter Dinge, die unendliche Mühe machten und die er nur unter Protest hinunterwürgte. Rehle, das Kind, bekam Ähnliches, nur ein wenig anders, gerade so viel anders, daß man es extra zubereiten mußte. Kola hingegen brauchte Fleisch, viel Fleisch, gebraten, scharf gewürzt, starken Kaffee nachher, an überanstrengten Tagen auch ein Glas Wein. Alles, was er für tief ungesund und verderblich hielt, brauchte er selber in großen Mengen, sonst machte er schlapp und war in der Drei-Uhr-Sprechstunde müde und ohne Konzentration. Elisabeth selber hatte keinerlei Diätwünsche – wenn es nur billig war und keine Mühe machte. Sie und das Dienstmädchen aßen, was da war, was übrigblieb, und eine Menge Kartoffeln dazu. Die Kartoffeln wurden in dieser prinzipienerfüllten Küche stets in der Schale gekocht, die Schale enthielt etwas, dessen Namen Elisabeth immer vergaß und das für den Aufbau nötig war. Sie stand über den Spülstein gebückt und scheuerte mit einer kleinen Bürste die Kartoffeln blank, bekam

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