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Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel
Autoren: Baum Vicki
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Jahre alt war, klemmte Doktor Persenthein diese seine Tochter hinten auf das neu gekaufte Motorrad und nahm sie mit zu den Kranken, die er besuchte. Er setzte sie nach einem ausgerechneten und gut gesteigerten Verfahren der Bekanntschaft mit allen möglichen Bakterien aus, von der infektiösen Erkältung, deren Erreger unbekannt ist, bis zum populären Loefflerschen Bazillus, der die Diphtherie verursacht. In ganz tollen Augenblicken war Doktor Persenthein davon überzeugt, daß Rehle auch eine Röhre voll Streptokokken schlucken könne, ohne krank zu werden. Merkwürdigerweise blieb Rehle gesund. Das war kein wissenschaftlicher Beweis für Doktor Persentheins Theorie; aber er hatte manchmal Lust, es als Beweis anzusehen. Es gibt für den Menschen, der sich einer Idee verschreibt, solche schwindligen, absturznahen Augenblicke.
    Elisabeth hätte die Himmelangst um ihr kleines Mädchen in dieser Zeit nicht ausgehalten, wenn sie nicht fromm gewesen wäre. Sie beredete die Sache mit Gott und der Madonna, sie huschte manchmal von Einkaufsgängen weg in die kleine, alte katholische Kirche, kniete neben dem Sarkophag der Sigismunda von Raitzold nieder und ließ sich beruhigen und trösten. Der Doktor schwor auf die Kraft seiner Idee. Elisabeth schwor auf die Kraft ihres Betens. Und das Rehle gedieh.
    Die Leute von Lohwinckel ließen sich inzwischen von ihrem verrückten Doktor behandeln, aber sie hielten nichts von ihm, und im Laufe der Jahre wurde aus einer lächelnden Mißachtung bissige Feindschaft.
    Die Bevölkerung von Lohwinckel ist nicht gesünder oder kränker als der Durchschnitt in andern kleinen Städten. Sie verzeichnet den normalen Prozentsatz an Rachitis, Tbc und S, sie hat ihre jährliche Grippezeit und ihre steigenden und fallenden Kurven für Keuchhusten, Masern, Scharlach und Diphtherie. Halsweh, Ohrenschmerzen und beginnende Magengeschwüre versucht man ohne Arzt loszuwerden. Mit Rheumatismus läuft man zum Apotheker Behrendt. Blinddarme fahren nach der Kreisstadt, wenn sie sich's einigermaßen leisten können. Was bleibt, sind einige Knochenbrüche, die Geburten, die Kinderkrankheiten, die Krankenkassenpraxis. Und die Bleikrankheit.
    In Lohwinckel verschaffte man sich die Bleikrankheit in Profets Akkumulatorenfabrik. Das war die einzige Fabrik des Ortes, sie stand am Rand der Vorstadt Obanger, mit unfreundlich gelbgrauen Mauern, und beschäftigte eine Menge Arbeiter. Bei diesen Arbeitern hatte Doktor Persenthein einen Durchschnitt von achtundzwanzig Prozent errechnet, die der Krankheit verfielen. Er vertiefte sich in die Literatur über diese Berufskrankheit, die in der Maske vieler andern Krankheiten auftrat, als Nervenleiden, als Blutarmut, mit Krämpfen, Schmerzen, Magen-, Darm-, Leberleiden. Er studierte die Statistiken der großen Akkumulatorenfabriken, bei denen alles und jedes zum Schutz der Arbeiter geschah. Dort hatte man die Krankheit auf ein Nichts, auf ein halbes Prozent heruntergebracht. Aber Profets Fabrik mit ihren schlechten Anlagen, mit ihren notdürftig umgebauten Werkräumen einer früheren Färberei, mit ihren achtundzwanzig Prozent Bleikranken war die reine Giftbude. Man konnte nicht einmal Herrn Profet allein dafür verantwortlich machen, denn ihm wieder waren die Hände gebunden, solange Herr von Raitzold auf Grund und Boden saß und jedem Fabrikneubau und jeder Erweiterung seinen Dickkopf entgegensetzte. Die Arbeiter ihrerseits, diese Kaninchen, waren achtlos und fahrlässig im Umgang mit dem Gift und taten so, als müsse jeder Obangerer über kurz oder lang bleikrank werden. Der Doktor sah dem eine Zeitlang zu, dann nahm er den Kampf auf.
    Doktor Persenthein begab sich auf die Suche nach einer Therapie gegen die Bleikrankheit.
    Er fand in den nächsten drei Jahren sechs erprobte und zwei neue Behandlungsmethoden, die nichts halfen. Die Lohwinckler wurden skeptisch – aber nicht so skeptisch wie Doktor Persenthein selber, der aufhörte zu schlafen, der fieberhaft gereizt und unfreundlich in der Gegend herumknatterte, der rote Augenränder bekam und dessen germanischer Langschädel sich unter dem Ansturm von Gedanken, Sorgen und experimentellen Fehlschlägen ausbuckelte und einbuchtete wie eine Küste in der Brandung. Die Patienten fürchteten sich vor ihrem Arzt, was ungünstig auf ihr Befinden einwirkte, und Elisabeth fürchtete sich auch. Sie hatte Angst vor dem trotzigen Kummer, der oft in seinen Augen wohnte, vor seinem harten Auffahren bei Nacht, vor der Ungeduld in seiner
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