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Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel
Autoren: Baum Vicki
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am Fensterbrett und hatte mit den Händen das Holz hinter sich gefaßt. Es sah ein wenig aus, als hielte er sich dort fest, um nicht mit den Fäusten loszugehen. Lungaus spürte etwas in sich zerren, das er nicht erkannte; er wußte nicht, daß es Dankbarkeit war.
    »Sie meinen's ja soweit gewiß nicht schlecht«, brummte er. »Aber wenn Sie glauben, das ist ein Vergnügen, so Kuhfutter fressen und das Versuchskarnickel abgeben und Blutprobe jeden Monat und alles. Da hab' ich mir oft gedacht: ›Wärste doch lieber gleich krepiert, als dir an den Doktor zu verkaufen‹, hab' ich mir gedacht –«
    Persenthein stieß sich vom Fenster ab zum Schreibtisch und blätterte in den Aufzeichnungen über den Fall Lungaus. Er hatte einen Weg gefunden, Doktor Persenthein, er hatte eine Idee, eine grundlegende, erschütternde Idee. Aber er hatte keine Möglichkeiten zu experimentieren, kein Laboratorium, keine Klinik, kein Menschenmaterial. Er hatte nichts als diesen einen, einzigen Lungaus, der sich an einem völlig verlorenen Punkt seiner Existenz hatte bereitfinden lassen, Doktor Persentheins neue Therapie am eigenen Leibe und unter strengster Bewachung durchzuführen. Die Notizen über Lungaus kannte er auswendig, Lungaus war der Extrakt seiner Arbeit, sein Beweis, sein Triumph. Den Organismus Lungaus hatte er Schritt für Schritt neu aufgebaut, umgeändert, umgestimmt und alle Widerstandskräfte gegen Gift und Krankheit in ihm wachgemacht. Kristalle von Erkenntnissen hatten sich um diesen Fall Lungaus angesetzt. Nicht nur die Bleikrankheit war verschwunden, sondern auch der Schützengrabenrheumatismus und eine offene Flechte am Fuß. Es mußte einen Punkt der absoluten Gesundheit geben, von dem aus Krankwerden überhaupt unmöglich war. Doktor Persenthein, praktischer Arzt und Geburtshelfer in Lohwinckel, hatte nicht weniger vor, als diesen Punkt zu finden. Er war ziemlich allein, dieser Doktor Persenthein. Er hatte ein paar Sätze im Aristoteles zu Freunden und ein paar Ansichten, die er in einem umkämpften Buch gefunden hatte: Die Krise der Medizin. Nun ja. Und das Rehle. Und dann noch den renitenten Lungaus – – –
    »Die Leute sagen überhaupt, Sie sind verrückt, sagen die Leute«, bemerkte Lungaus in das Schweigen hinein. Er hatte den Doktor betrachtet und dabei gedacht: ›Er hat manchmal Augen wie ein Hund.‹ Und damit meinte er das Durchscheinende in Persentheins Blick, während der den Fortlauf der Befunde las und summierte, ›Is auch ein Hund ‹ , dachte Lungaus ferner und tat seine unfreundliche Äußerung.
    »Diese Kaninchen –«, sagte Persenthein nur wegwerfend; es war sein Sammelname für die Bewohner von Lohwinckel und Umgebung.
    »Was für einen Zauber wollen Sie denn nu gemacht haben, daß mir das Blei nicht mehr schaden soll und das Bein heil bleiben und alles?« fragte Lungaus. Persenthein war ins Lapidare zurückgekehrt.
    »Umgestimmt. Die Disposition geändert. Verstanden?« sagte er.
    »Nicht die Bohne«, sagte Lungaus.
    »Also Mensch, passen Sie auf. Es kriegen doch nicht alle Leute Bleikrankheit, nicht wahr? Warum? Die Disposition ist nicht danach. Aber es kriegen auch nicht alle Leute Tbc, und wenn sie noch so viel Bazillen einatmen. Klar? Grippe kriegen viele, aber manche kriegen's eben doch nicht. Rehle kriegt's nicht. Sie werden's jetzt auch nicht mehr kriegen. Wieso? Die Disposition, das ist es. Die Krankheit kann ich nicht ändern, die ist da, die atmen Sie ein, die fressen Sie, die saufen Sie, die hängt sich an Sie auf Millionen Arten. Aber Sie kann ich ändern, Sie verstehen? Den Menschen kann man ändern. Die Disposition muß man ändern können, das ist es. Ich kann's noch nicht ganz, aber da ist ein Weg, passen Sie auf. Da ist etwas, das Aristoteles die vollkommene Harmonie nennt. Ein Mensch, der krank werden kann, dem fehlt diese Harmonie; ein gesunder Mensch, der krank wird, der war nicht gesund. Ein gesunder Mensch ist der, der überhaupt nicht krank werden kann. Ist das einfach?«
    Lungaus überlegte das. »Haben Sie schon so 'nen Menschen gesehen?« fragte er und zog die alten Hosen hoch. Persenthein überlegte auch.
    »Nee. Mediziner sehen überhaupt keine gesunden Menschen, nicht mal leidlich gesunde. Da steckt der Rechenfehler. Sie kriegen auf der Universität viermalhunderttausendachthundertzweiundsechzig verschiedene Krankheiten erklärt und gezeigt. Aber den Professor möcht ich mal sehen, der seine Studenten hinführt und sagt: ›Hier haben Sie einen gesunden
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