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Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel
Autoren: Baum Vicki
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die Wandbank, die sonst den Patienten gehörte, und zog das Kind an sich.
    »Wegen des Mannes, der sich in den Finger gehackt hat?« flüsterte Rehle.
    »Ja. Was weißt denn du davon?« fragte Elisabeth verwundert.
    »Ich war doch mit auf dem Gut, wie er's verbunden hat. Erst hat's geblutet, dann hat's aufgehört. Der Mann hat gelacht dabei. Kola hat gesagt: ›Der ist nicht so wehleidig wie Rehle.‹ Ich bin aber gar nicht wehleidig. Wie ich in die Fensterscheibe gefallen bin, hab' ich bloß wegen der Scheibe geweint, daß sie kaputt war, es hat auch nicht arg weh getan. Schade, wenn der Mann totgehen muß, nicht?«
    »Der geht doch nicht tot«, flüsterte Elisabeth flehend in Rehles warmes Haar. Weil es dunkel war, gestattete sie sich, ihren Mund in diese Wärme zu legen.
    »Doch. Kola hat Angst, daß er totgeht. Kola hat mir's erzählt«, sagte Rehle laut und nickte energisch mit dem Kopf.
    Elisabeth fühlte unter ihren Händen, die sie um die Brust des kleinen Mädchens gekreuzt hielt, Rehles lebendigen Herzschlag wie einen kleinen, aufflatternden Vogel. ›Dir?‹ dachte sie. ›Mir nicht?‹ Sie sagte nichts. Das Gespräch drinnen dauerte an, mit einsilbigen Fragen und den stummen Pausen der Antwort im Telefon. Oben tappte Lungaus. Dann hörte man den Doktor im Ordinationszimmer heftig auf und ab gehen. Ob Rehle einschlief oder horchte, war nicht klar. Im Keller arbeitete die elektrische Pumpe. Kolas feuchte Windjacke am Kleiderständer roch nach Regen und Appretur, und alles war unsichtbar.
    Schließlich kam der Doktor zum Vorschein. Er trat aus dem Grauen ins Schwarze, denn hinter ihm lag Dämmerung im Zimmer, und die Diele war stockfinster.
    »Soll ich – Licht?« fragte Elisabeth.
    »Danke, ich finde schon. Ich mache noch ein paar Visiten«, sagte er abgerissen, sie hörte ihn am Kleiderhaken rascheln.
    »Kola – ist – was ist los mit dem Wirz?«
    »Nichts.«
    »Nichts?«
    »Aus. Exitus um vier Uhr. Schon seit drei Stunden moribund gewesen, sagt Schroeder.«
    »Ach –« flüsterte Elisabeth. Rehle bewegte sich nicht, aber Elisabeth spürte an einem Härterwerden des kleinen Körpers unter ihren Händen, daß das Kind wach war und sich spannte.
    »Da haben die Lohwinckler wieder etwas zu reden gegen mich –« sagte Doktor Persenthein in die Finsternis hinein.
    »Du kannst doch nichts dafür«, flüsterte Elisabeth.
    »Es ist peinlich«, antwortete er und bemerkte nicht, daß er das gleiche Wort benützte, das ihn kurz vorher geärgert hatte. »Manchmal habe ich so genug davon«, sagte er noch, und dann tastete er sich mit seinen Knien heran und setzte sich auf die Patientenbank.
    »Schroeder sagt auch, daß es Pech ist. Schroeder hat ja selber noch vier Tage mit der Amputation zugewartet. Da hast du es. Da geht man nun herum und würgt sich ab. Wenn ein Riesenkerl wie dieser Wirz mit der Hacke ausrutscht und sich in den Finger schlägt, ist das keine große Geschichte. Hätte ich gleich den ganzen Finger abgenommen – natürlich hätte dann nichts passieren können. Aber, Teufel hinein, man tut's doch eben nicht. Gott weiß, was für Dreckzeug er an seiner Hand gehabt hat, hinterher ist man natürlich klüger. Schroeder sagt, er hätte es genau so gemacht. Desinfiziert, verbunden, Schluß. Wer setzt denn gleich einen Finger ab? – Aber hätt' ich's bloß getan – verfluchter Zustand –«
    Elisabeth hörte Kolas Monolog schweigsam an. Leicht war es nicht, in Lohwinckel als die Frau eines angefeindeten Mannes zu leben; jetzt kamen neue Schwierigkeiten dazu. Manchmal hatte sie das Gefühl, daß man ihr zu schwere Gewichte zu tragen gab, aber sie schleppte ganz tapfer. Am schlimmsten war es, wenn in ihr selber etwas insgeheim Partei gegen Kola ergreifen wollte. Er hatte diese Besessenheit für die Medizin, die ihn alles in Fetzen reißen ließ, was nicht in seine Richtung paßte. Und er hatte ein Profil wie Schiller. ›Wahrscheinlich, weil er genial war‹, dachte Elisabeth. Aber es passierte ein bißchen viel Unglück in seiner Praxis. Elisabeth hatte Augenblicke des Tiefstandes, in denen sie deutlich an Kolas medizinischer Berufung zweifelte und die Opfer nicht begriff, die dieser Fetisch Medizin von ihr verlangte. Sie legte ihre Hand über eine Entfernung hin auf Kolas Knie.
    »Ich möchte wissen, was du eigentlich von mir hältst?« fragte er trübe in die Dunkelheit, denn sie waren beide so verheiratet, daß sie Gedanken lesen konnten.
    »Darauf kommt's nicht an. Ich hab' dich ja gern«,
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