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Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel
Autoren: Baum Vicki
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sagte sie. Er merkte die winzige Besinnung, mit der sie das Wort ›gern‹ an Stelle des Wortes ›lieb‹ setzte, und streckte eine bittende Hand ins Dunkle, die an Rehles kleine Schulter stieß.
    »Da ist ja Rehle –« sagte er, und Elisabeth bemerkte im Finstern, ohne es zu sehen, daß er lächelte.
    »Doch. Darauf kommt's an. Nur. Du bist die einzige«, sagte er. Er sagte es laut und streng, um sich nicht weichzumachen, und verschluckte das zärtlichere Satzende. Elisabeth spürte, daß er aufstand. Im nächsten Augenblick knipste er am Treppenknopf das Licht an und verschwand im Verschlag, um das Motorrad zu holen.
    »Wohin noch?« fragte sie.
    »Zwei Visiten in Obanger. Dann nach dem Priel, die Pneumonie. Wird auch nicht durchkommen. Achtundsiebzig ist sie. Dann fahre ich zu Raitzolds und sage Bescheid wegen Wirz. Und zu Profet – der Junge fiebert immer noch«, sagte Persenthein und schob sein Motorrad an die Haustür. Das Rehle, stumm und nachdenklich, hängte den Türflügel in die Haken, sie hatte eine unkindliche Art, unhörbar und unsichtbar zu werden, wenn etwas in der Luft lag. Vor der Haustür bauschte sich ein wenig Laub an der Schwelle, vom Wind zusammengetrieben, der Schatten des Angermann sank in die Dämmerung ein.
    »Was fehlt dem Jungen von Profet?« fragte Elisabeth und steckte fröstelnd die Arme unter die Schürze, während sie in die Tür trat.
    »Ich weiß es nicht. Er hat Fieber seit dem letzten Fußballspiel; ganz verrückte Fieberkurve, mal rauf, mal runter, aber immer Temperatur. Und sonst keine Symptome zu finden. Reichlich unangenehm. Der Bengel liegt und fiebert. Ich weiß nicht, was ihm fehlt.«
    »Du weißt es nicht?« fragte Elisabeth.
    »Nein. Ich weiß es nicht. Ich weiß es eben nicht«, schrie der Doktor wütend und fuhr durch den Torbogen davon.
    Elisabeth blieb dumpf vor dem Haustor stehen, bis seine gekränkte Rückenlinie verschwunden war und das gereizte Auspuffknattern des verbrauchten Motorrades sich in der Richtung von Obanger verlor.
    Lohwinckel – das ist eine kleine, alte Stadt in Rheinhessen, mit rund siebentausend Einwohnern, siebentausend Seelen, wie es in unmodern gewordenen Reisebeschreibungen heißt. Siebentausend Seelen also, die hinter den Fachwerkfassaden Lohwinckels ihr Wesen treiben und ihr Leben leben. Lohwinckel hat eine alte Kirche mit einem ausgebauten und einem nie vollendeten Turm, es hat sein Rathaus, erbaut MDCXV, renoviert, MDCCCCVII; in dem Rathaus regiert der fortschrittliche Bürgermeister Herr Doktor Ohmann, ein feiner Kopf, wie selbst seine Gegner zugeben. Der Bürgermeister also ist fortschrittlich, andere wieder sind es nicht, Direktor Burhenne zum Beispiel, der das Gymnasium leitet und kürzlich sein fünfundzwanzigstes Jubiläum feierte. Es teilt sich die Welt wie überall, so auch in Lohwinckel, in rechts und links, in arm und reich, in Vorangeher und Stehenbleiber. Wenn die eine Herde hü macht, dann macht die andere hott, und außen am Rande laufen da noch ein paar Einzelgänger herum wie der Doktor Persenthein oder der Kaufmann Heinrich Markus' Nachfolger, um nur einige zu nennen. Einer weiß viel vom andern in einer Stadt wie Lohwinckel, und wenn beispielsweise auf dem Fußsteig vor dem Haus des Geschirrhändlers Nadler drei Hunde aus der Stadt sitzen und heulen, dann sagen die Lohwinckler: ›Sieh an, da ist bei Nadlers die Inka wieder läufig!‹ Oder wenn Direktor Burhenne – von seinen Schülern ›Putex‹ genannt – mit verfinstertem Bismarckkopf das Klassenzimmer betritt und drei minus für zwei leichte Fehler gibt, dann weiß das Gymnasium: Putex hat Krach mit Frau Bartels gehabt. Frau Bartels nämlich ist die Hausdame des frühverwitweten Direktors Putex; sie sorgt für ihn, für die zwei Pensionäre, die man in der Mansarde zu beherbergen pflegt, und sie hat auch ziemlich nebenbei Elisabeth Burhenne aufgezogen, die nachher Frau Doktor Persenthein geworden ist. Daß Frau Persenthein es seit ihrer Verheiratung mit diesem unbeliebten Wirbelkopf nicht leicht hat, auch darüber weiß die ganze Stadt Bescheid. Aber wie es in Wahrheit ist, ach nein, das weiß auch in Lohwinckel ein Mensch vom andern nicht. Und so eng die Häuser innerhalb der alten Stadtmauer beieinanderhocken, so inselweit, so sternallein leben auch hier die siebentausend Seelen rund um den Marktbrunnen, auf dem eine kleine Madonna ihrem Kind ein steinernes Äpfelchen reicht.
    Wie die meisten Städte hat auch Lohwinckel seine Häßlichkeiten im Osten
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