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Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
Autoren: Sergej Lukianenko
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00
    In letzter Zeit sucht mich dieser Traum immer öfter heim.
    Er fängt völlig harmlos an, zunächst ist gar nichts zu erkennen. Da ist lediglich dieses graue Dunkel. Nur weit vor mir schimmert ein schwaches Licht, ein weißer Funke im Nebel. Ich bewege mich, gehe auf diesen Funken zu – und da lichtet sich die Dunkelheit um mich herum.
    Es ist schon komisch: Sobald sich die Dunkelheit verzieht, hörst du auf, das Licht zu sehen.
    Ich bleibe stehen, versuche, mir die Richtung einzuprägen, sie abzuspeichern. Dabei ist das gar nicht nötig, denn vor mir zieht sich eine Brücke dahin. Eine extrem schmale Brücke, eine Saite nur, die über eine Schlucht führt. Über eine solche Brücke bin ich bereits gegangen, mehr als einmal sogar – aber so schwer war es noch nie. Ich muss mich zwischen zwei Felswänden hindurchzwängen, die aus dem Nebel herauswachsen. Die linke Wand besteht aus blauem Eis, die rechte aus purpurrotem Feuer. Dazwischen verläuft diese Haarbrücke.
    Ich gehe weiter.
    Die linke Wand ist voller Fingerabdrücke. Mal sind es einfach Prints, mit Fetzen von Haut und Fleisch, die mit Raureif überzogen sind. Mal ragen aber auch Splitter gefrorener Knochen mit
Resten der Kleidung aus der Wand heraus. Und mal sind sogar Menschen an den Fels geschlagen. Über ihnen hat sich Schneegrind gebildet.
    Die rechte Felswand ist weniger variantenreich, sie verbrennt ausnahmslos alle, schnell und mit Haut und Haar. Möglicherweise wählen deshalb weniger Leute diese Seite.
    Ich gehe weiter.
    Unter mir vibriert die Haarbrücke. Vielleicht versengt das Feuer sie ja, vielleicht rollt eine Eislawine über sie hinweg. Vielleicht geht aber auch jemand vor oder hinter mir.
    Ich muss diese Brücke überqueren. Unbedingt.
    Nur dass mein Traum immer gleich endet.
    Die Brücke bebt. Kann sein, dass ich zu fest aufgetreten bin, keine Ahnung.
    Wie ein Hochseilartist vorm Absturz breite ich die Arme aus, setze alles daran, das Gleichgewicht nicht zu verlieren, suche Halt, an der blauen Eiswand links, an dem roten Feuerwall rechts …

01
    Es ist lange her, dass ich zu spät zur Arbeit gekommen bin. Ich stecke im Stau, der sich durchs halbe Viertel zieht. Neben mir steht ein gewaltiger, kastiger Wagen, ich glaube, der neueste Lincoln. Die Scheiben sind runtergelassen, und der Fahrer schielt so mürrisch zu mir rüber, als habe mein Motorrad das Verkehrschaos verschuldet.
    »Hast du Feuer?«, fragt er nach einer Weile. Wahrscheinlich langweilt er sich einfach. Mir kann er jedenfalls nicht weismachen, dass es in dieser kirschroten Luxuskarosse keinen Zigarettenanzünder gibt. Garantiert kannst du in dem Schlitten sogar einen Gasherd samt Grill anschließen.
    Schweigend halte ich ihm das Feuerzeug hin. Eine Hand mit einem Ring an jedem Finger langt danach. Der Typ zündet sich eine dünne teure Zigarette mit einem überdimensionalen Filter an. Was wohl Väterchen Freud zu dieser Vorliebe für große Autos und lange Zigaretten sagen würde? Aber lassen wir den Herrn lieber aus dem Spiel, der wäre bei uns genauso verrückt geworden wie wir alle, noch dazu in Rekordzeit.
    »Was ist denn da vorn los?«, erkundigt sich der Fahrer.
    Der Schlitten liegt viel zu tief, als dass der Typ das Chaos überblicken könnte.
    »Da kommt ein Konvoi«, antworte ich. »Von LKWs.«
    Jeder andere hätte daraufhin losgepoltert, wie man bloß Laster durchs Zentrum leiten könne! Noch dazu durchs russische Viertel und ausgerechnet zur morgendlichen Rushhour nach Moskauer Zeit!
    »So was kann vorkommen!«, meint der Kerl jedoch nur. »Muss ja schließlich auch mal sein.«
    Also will der Typ mit seinem Lincoln nicht bloß angeben. Er kann es sich wirklich leisten, die Ruhe zu bewahren, er braucht sich nicht aufzuregen, wenn er fünf oder zehn Minuten im Stau steht.
    Ich mich aber schon. Und wie.
    Komme ich fünf Minuten zu spät, fällt das vielleicht nicht auf. Aber zehn Minuten – das bedeutet unweigerlich einen Eintrag in der Personalakte. Und bei einer Viertelstunde ziehen sie mir die Hälfte meines Tageslohns ab.
    Im Moment liege ich bei einer Verspätung von vier Minuten.
    In der Spur geht nichts mehr. Nun ist ein Standardmotorrad keine nach Sonderwünschen angefertigte Limousine, und ich bin mit meiner matt stahlfarbenen Jacke, den grauen Jeans, dem Helm mit dem verspiegelten Visier keine knallige oder auffällige Erscheinung. Ebenso wenig wie ein Modell für Haute Couture, aber …
    Aber auch eine unscheinbare Erscheinung hat ihre Vorteile.
    Ich
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